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02 Winter am Ende der Welt

02 Winter am Ende der Welt

Titel: 02 Winter am Ende der Welt
Autoren: Annegret Heinold
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ich.
    Ganz so wie damals bei Miguels Geburtstag im Ferienhaus in Deixa-o-Resto, wo wir alle mit dem Luftgewehr des Gärtners geschossen haben, und die einzige, die wirklich die Hundert auf der Zielscheibe getroffen hat, war ich. Reiner Zufall.
    „Da ist etwas, was ich schon gerne wüsste“, sagt Jorge und räuspert sich ein paar Mal. „Warum hast du mich eigentlich verlassen? Ich meine, warum gerade zu dem Zeitpunkt, plötzlich aus heiterem Himmel im November, da war doch gar kein Anlass. Ich war ja nicht mal untreu, also nicht zu diesem Zeitpunkt, jedenfalls.“
    „Aber ich dachte, du wärest“, sagte ich. „Ich hatte dich doch mit der Joana im Retiro gesehen.“
    „Scheiße, Jasmin“, sagt Jorge. „Du hast mir also wirklich zugetraut, dass ich mit einer knapp Zwanzigjährigen was anfange, Scheiße. Mit einem Mädchen, dass meine Tochter sein könnte. Meine Tochter ist, in diesem Fall. Was hältst du eigentlich von mir? Also ehrlich, Jasmin, wirklich.“
    „Jorge, ich ... was sollte ich denn sonst denken?“, frage ich.
    Aber ein bisschen hat er recht, hätte ja auch eine Studentin sein können. Eine Praktikantin, eine Assistentin. Eine Freundin von Nicole oder Tiago. Hätte was weiß-ich-wer sein können. Vielleicht habe ich in der Tat überreagiert.
    „Du hättest mich fragen können“, sagt Jorge. „Ein bisschen mehr Vertrauen, ein bisschen weniger Misstrauen.“
    „Vertrauen? Dir vertrauen? Nach all dem, was du in diesen ganzen Jahren getan hast, soll ich dir vertrauen?“, sage ich.
    Ja, streiten können wir, das haben wir lange geübt. Wir hatten dreißig Jahre lang Zeit zu lernen, wie man aus einer Mücke eine Elefanten macht. Da sind wir so richtig gut drin.
    „Weißt du was, ist ganz gut, dass wir uns scheiden lassen“, sagt Jorge. „So hat das doch überhaupt keinen Zweck mehr.“
    Er schiebt die Papiere noch ein Stückchen näher zu mir und nimmt seinen Füller aus der Jackentasche. Er nimmt die Kappe ab und hält mir den Füller hin. Ich nehme den Füller in die Hand. Jorge und sein Füller. Jorge und seine Füller, sein chaotisches Arbeitszimmer, seine Großzügigkeit, sein ... Da fällt mein Blick auf die Uhr im Regal, meine Güte, es ist acht Uhr, ich muss los, Carl erwartet mich, ich komme schon jetzt zu spät.
    „Ich unterschreibe nachher“, sage ich zu Jorge und gebe ihm seinen Füller zurück. „Ich muss los.“
    „Und was ist mit mir?“, fragt Jorge.
    „Man soll sich von unangekündigten Besuchern nicht den Abend durcheinander bringen lassen“, sage ich. „Habe ich von deiner Mutter gelernt. Hat sie neulich gesagt.“
    Jorge sagt nichts.
    „Du kannst unten im Basement schlafen“, sage ich. „Mach es dir bequem. Warte nicht auf mich.“
    „ Sinceramente, Jasmin, isto ....“, fängt Jorge den Satz an, was soviel heißt wie: Ehrlich Jasmin, das ist ..., aber er beendet den Satz nicht.
     
    Ich fahre aus dem Dorf, das ist der Anfang von The Road. Am Dorfende das schöne Schild mit dem Spruch: Der Letzte macht das Licht aus . Hoffen wir, dass es nie dazu kommt. Wäre doch schön, wenn das Dorf bestehen bliebe, wenn hier weiter die Lichter anblieben, wenn hier weiter Leute wohnen würden.
    Leute wie Kathleen, die nach vielen Turbulenzen im Leben hier einen gemütlichen Diner führen und mit dem einfachen Leben zufrieden sind. Leute wie Jeff und April, die hier nach einer Enttäuschung oder einem Schicksalsschlag Abstand von der Welt finden, während ihre Seelen heilen. Leute, die einfach ein bisschen anders sind als der ganz normale Mitbewohner in der Stadt und die hier so sein dürfen, wie sie sind. Leute, die nicht so recht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen und die sich hier am Ende der Welt eine Auszeit nehmen dürfen, so wie ich.
    Hier in diesem Dorf achtet keiner auf seine Kleidung, nicht mal bei Musikveranstaltungen im Motel. Das ist ein uneitles Dorf, sozusagen, da geht man in Jeans und Sweatshirt auf die Straße und bei Regen kommt noch eine Regenjacke drüber und das ist es. Hier achtet man wirklich nicht auf sein Aussehen. Das hat was sehr Befreiendes. Ich habe mich seit Monaten nicht geschminkt. Gerade mal, dass ich mein Gesicht noch eincreme und die Haare kämme.
    Hier am Anfang von The Road ist noch kein Schotter, da ist eine Vorstufe von Teer, also noch nicht richtig geteert, aber doch fest, und gibt bestimmt auch einen technischen Namen dafür, aber ich kenne ihn nicht.
    Ich fahre an dem Schild vorbei, das die Einfahrt zum Leiner River Trail
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