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011 - Die Amazonen von Berlin

011 - Die Amazonen von Berlin

Titel: 011 - Die Amazonen von Berlin
Autoren: Claudia Kern
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spürte, wie derbe Stricke in seine Handgelenke schnitten, aber er wehrte sich nicht. Angesichts der Übermacht hätte das keinen Sinn gemacht. Stattdessen nutzte er die Zeit, um sich umzusehen.
    Im ersten Moment glaubte er mitten auf einer Waldlichtung zu stehen. Um ihn herum befand sich eine Ansammlung primitiver Lehmhütten. Frauen saßen davor und schärften Waffen, während andere Tiere häuteten oder Körbe flochten.
    An einigen Bäumen hingen Holzkäfige, in denen abgemagerte verdreckte Gestalten hockten und apathisch vor sich hin starrten. Einige Kinder hatten sich unter einem der Käfige versammelt und warfen mit kleinen Steinen nach dem Insassen. Der rührte sich nicht, schien noch nicht einmal zu merken, was unter ihm vorging.
    Mittlerweile hatte sich eine Menschenmenge gebildet und starrte Matt mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Neugier an. Es befand sich kein einziger Mann unter ihnen.
    Seltsam, dachte Matt und stutzte erneut, als er inmitten der natürlich wirkenden Umgebung etwas sah, das nicht dorthin gehörte: eine Metall Verstrebung, die hoch in den Himmel aufragte. Er folgte ihrem Verlauf mit den Augen und erstarrte.
    Über ihm, im hellen Sonnenlicht kaum zu erkennen, konnte er die Überreste einer riesigen Glaskuppel ausmachen. Außer den ursprünglichen Verstrebungen war kaum mehr etwas erhalten geblieben.
    Kletterpflanzen wanden sich durch das zerschmetterte moosbewachsene Glas, kleine Sträucher wuchsen auf Metallstreben, wo sich ein wenig Erde abgesetzt hatte.
    Matt fragte sich, was hier früher einmal gewesen war. Er versuchte sich die Kletterpflanzen und Bäume wegzudenken und sich vorzustellen, wie die Glaskuppel ausgesehen hatte, als sie noch intakt war.
    Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.
    Er wusste plötzlich, wo er war, erkannte nicht nur die Stadt oder den Stadtteil, sondern sogar das Gebäude, in dem er sich befand.
    Matt Drax war in Berlin.
    In den Überresten des Deutschen Reichstags.
    ***
    Das stumpfe Ende eines Speers traf Matt in den Rücken und ließ ihn vorwärts stolpern. Es gelang ihm trotz seiner gefesselten Hände gerade noch, das Gleichgewicht zu behalten.
    »Vorwärts!«, herrschte ihn die hinter ihm stehende Kriegerin überflüssigerweise an. Matt verkniff sich jeglichen Kommentar. Er war zu sehr mit den Erinnerungen beschäftigt, die auf ihn einstürmten.
    Es war an einem sonnigen Sonntag- nachmittag des Jahres 2006 gewesen, als Hank Williams, Jennifer Jensen und er sich entschieden hatten, den Reichstag zu besichtigen. Sie waren bereits seit mehr als drei Monaten in Berlin Köpenick stationiert, aber aus irgendwelchen Gründen hatten sie nie die Zeit gefunden, sich mit mehr als den Kneipen der deutschen Hauptstadt zu beschäftigen. Es war Jennys Idee gewesen, das zu ändern, und so fanden sie sich plötzlich inmitten japanischer und amerikanischer Touristen im Inneren des Reichstags wieder.
    Matt konnte sich nur noch verschwommen an die Führung durch das Gebäude erinnern, dafür stand ein anderer Moment so klar in seinem Gedächtnis, als wäre er eben erst passiert: Er und Hank hatten vor dem Reichstag eine Currywurst an einer Pommesbude gekauft und Jenny von den kulinarischen Höhepunkten deutscher Imbisskultur zu überzeugen versucht.
    Die Kanadierin hatte mit einem Vortrag über Gesundheitsrisiken und mangelnde Hygienekontrollen geantwortet, der Matt und Hank den Appetit aber nicht verderben konnte.
    Noch jetzt glaubte Matt den Geschmack der Currysauce auf seiner Zunge zu schmecken.
    Er schüttelte den Gedanken ab. Currywurst gehörte ebenso einer längst vergangenen Welt an wie der Reichstag, durch den er nun als Gefangener geführt wurde.
    Sie kamen an einigen Lehmhütten vorbei. Matt betrachtete die Käfige, die verteilt an den Bäumen hingen. In jedem Einzelnen davon saßen Männer.
    Ein Stück hinter den Hütten lag so etwas wie ein Gefängnis, das von roh behauenen Baumstämmen umgeben war. Gefangene streckten flehend ihre Hände durch die Gitter undbaten um Wasser, aber die weiblichen Wachen ignorierten sie.
    Matt suchte mit Blicken nach Aruula, konnte sie aber nirgends sehen. Er hoffte, dass man sie weder in dieser Gemeinschaftszelle noch in einem der Käfige untergebracht hatte.
    Der schmale Pfad, über den sie gingen, verbreiterte sich. Die Bäume wichen an beiden Seiten zurück und gaben den Blick auf die nächste Überraschung dieses Morgens frei: einen offenen Platz in der Mitte des Reichstags, auf dem die Quadriga stand, die einst ihren
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