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0105 - Rückkehr aus dem Geistergrab

0105 - Rückkehr aus dem Geistergrab

Titel: 0105 - Rückkehr aus dem Geistergrab
Autoren: Gerhart Hartsch
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dem schmalen Trampelpfad, der mit der Zeit entstanden war und niemandem anders zugeschrieben werden konnte als dem Henker. Wobei es unerklärlich schien, daß er einerseits Spuren auf der Erde hinterließ, andererseits wie eine Spukgestalt durch Felsen gehen konnte.
    Zamorra arbeitete sich vor bis zu einer Art Torbogen aus natürlichem Stein. Dahinter lag ein freier Platz.
    Drohend ragte das Blutgerüst auf gegen einen bleichen Mond. Krähen hockten auf dem Querbalken und warteten geduldig auf Futter. Der Scharfrichter stand regungslos auf sein Beil gestützt, mit gespreizten Beinen. Die Augen hinter den Sehschlitzen des Gesichtschleiers funkelten.
    Irgendwo erklang das Knarren und Ächzen hölzerner Räder. Und dann ein gregorianischer Choral. Gesungen von zwei Mönchen. Sie trugen Kerzen und läuteten die Armesünderglocke. Auf einem Schinderkarren saß ein Mädchen in einem rauhen Gewand aus Sackleinen. Die Hände waren durch Stricke zusammengeschnürt. Das Mädchen hielt den Kopf gesenkt. Praktischerweise hatte der Kittel keinen Kragen. Der zarte Hals lag frei.
    Die Mönche gingen voraus. Dann folgte der Karren, gezogen von einer mageren Mähre, die den Weg wie im Schlaf fand. Niemand mußte die Zügel führen. Am Ende gingen zwei Landsknechte in der Tracht des ausgehenden Mittelalters mit erhobenen Hellebarden.
    Vor dem Schafott hielt der Gaul.
    Die Landsknechte zerrten das Mädchen herunter. Sie packten es an beiden Oberarmen. Die Verurteilte wehrte sich nicht.
    Ein Mönch stand neben den drei Stufen, die zum Blutgerüst hinaufführten. Stumm hielt der Kirchenmann der Todeskandidatin das Kreuz hin. Sie küßte es und zögerte kurz, bevor sie die kurze Treppe hinaufstieg. Noch immer wandte sie dem Betrachter den Rücken zu.
    Schweigend packte der Scharfrichter das Mädchen. Fixierte sie auf dem Block. Ihr Kinn ruhte in einer Aussparung. Ein Brett klappte herunter. Jetzt konnte die Verurteilte den Kopf keinen Millimeter mehr bewegen. Die Hände waren auf dem Rücken gebunden. Die Füße wurden festgeschnallt.
    Dann ging alles sehr schnell.
    Der Vollstrecker des Urteils mußte einen verborgenen Mechanismus betätigt haben. Die festgeschnallte Delinquentin wurde mit einem sanften Ruck in die Waagerechte gebracht. Lag jetzt so, daß der Scharfrichter ihr den Kopf abtrennen konnte. Die Handschellen lärmten wie toll. Die Mönche murmelten lateinische Gebete.
    Der Scharfrichter von Mazamet hob die Axt, deren Schneide im Mondlicht aufblitzte.
    Zum erstenmal sah Zamorra das Gesicht der Todeskandidatin. Sein Atem stockte. Das Blut gefror ihm in den Adern. Er verlor jede Beherrschung.
    »Halt!« schrie Zamorra laut und trat aus seinem Versteck.
    Er wartete nicht einmal die Wirkung seiner Worte ab, sondern rannte zum Blutgerüst.
    Denn die Verurteilte dort oben war niemand anderes als seine Sekretärin Nicole Duval.
    Sie schien den Professor nicht zu erkennen. Sie lag mit geschlossenen Augen da und wartete stumm auf den Todesstreich. Vor ihr stand der Korb mit Sägespänen, um das abgeschlagene Haupt aufzunehmen.
    Der Scharfrichter von Mazamet aber hielt inne.
    »Ergreift ihn!« befahl er den Landsknechten…
    ***
    Die Scheibenwischer des knallroten Citroën konnten die Wassermassen kaum noch bewältigen, die aus bleigrauem Himmel stürzten. Wie eine Sintflut ergossen sie sich über die Täler der Montagne Noire, der schwarzen Berge.
    Westwind driftete den Regen gegen die Front des Wagens, der einsam seines Weges zog, im ersten Gang gefahren, humpelnd und holpernd, weil die Strecke aus einer ununterbrochenen Kette von Schlaglöchern zu bestehen schien.
    Angstrengt spähte die hübsche junge Nicole Duval in die Nacht, um den rechten Pfad nicht zu verfehlen, der in eigenwilligen Kurven an der zernarbten Bergflanke entlangführte und angeblich eine Abkürzung bedeutete. Dabei bestand er nur aus zwei tiefausgefahrenen Spuren und einem kläglichen Rest von Asphalt, der den nächsten Frost kaum überstehen konnte. Worauf sich die Natur zurückholen würde, was der Mensch ihr abgejagt hatte. Die Finanzlage des französischen Staates machte solche ehrgeizigen Projekte wie Erschließung abgelegener Landstriche, zu denen auch die Region von Mazamet gehörte, zu einem undurchführbaren Abenteuer.
    Niemand schien mehr daran interessiert, Mazamets einzige Verbindung zur Außenwelt zu erhalten. Selbst für die Verhältnisse des dünnbesiedelten Südens von Frankreich lag die Siedlung ungewöhnlich einsam, nur noch bewohnt von einem
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