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01 - Schatten der Könige

01 - Schatten der Könige

Titel: 01 - Schatten der Könige
Autoren: Michael Cobley
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führte.
    Nach einem zweistündigen Ritt unter den regennassen Bäumen kam sie zu einer Stelle, wo ein Zugewucherter Karrenweg in das dunkle, mit Farnkraut bewachsene Vorgebirge hinaufführte. Trotz ihrer durchnässten Kleidung und obwohl sie fror, lächelte sie. Ihr Gedächtnis hatte sie nicht im Stich gelassen. Hinter diesen Hügeln erhob sich der südliche Ausläufer des Rukang-Massivs, einer Ansammlung schroffer Gipfel, die von felsigen Schluchten und senkrechten Abgründen durchzogen waren. Dort oben lag ihr Ziel. Ein uralter Schrein der Macht der Wurzel, Wujads Becken. Suviel stieg ab und führte ihr Pferd den Pfad entlang. Dabei lauschte sie aufmerksam auf jedes Geräusch oder den Lauten von Tieren. Seit der Invasion waren solche Bergpfade gefährlich geworden. Wo früher einmal Händlerkarawanen und Pilgergruppen entlang trotteten, schlichen jetzt Raubtiere umher, und oftmals blockierte dorniges Gebüsch den Pfad. Sie musste immer häufiger innehalten und sich mit der Machete einen Weg Freischlagen.
    So verstrich der Rest des Tages, während der unablässige Regen ständig zwischen Nieseln und Wolkenbruch wechselte. Unter einem felsigen Überhang, vor dem ein Vorhang aus tröpfelndem Moos hing, hielt Suviel kurz inne und fütterte ihr Pferd. Später rastete sie noch einmal unter einem Augenblattbaum, aß selbst etwas und wrang ihren Mantel aus.
    Die Nacht brach herein, doch sie ritt weiter. Sie wollte unbedingt den Schrein erreichen, bevor sie sich zur Ruhe begab.
    Schließlich gelangte sie an den Eingang einer Schlucht, der in dem spärlichen Licht kaum zu erkennen war. Sie hielt kurz inne und lenkte ihr Pferd schließlich hinein.
    Die Wände bestanden aus blankem, von Flechten überzogenem Fels. Als der letzte Lichtschimmer verblasste, wickelte Suviel eine mit Teer getränkte Fackel aus, zündete sie an und ritt weiter. Der Boden der Schlucht war Grasbewachsen und fiel etwas ab. Mehr und mehr verkümmerte Bäume und dürres Buschwerk säumten ihren Weg. Die Pflanzen wirkten im Licht der Fackel schwarz. Die Vegetation wurde immer dichter, und die kalte Luft roch unangenehm muffig. Dann verbreiterte sich der Pfad, und Suviel zügelte ihr Pferd. Sie stieg ab, fröstelte in der eisigen Kälte und starrte in tiefem Unbehagen auf das, was aus Wujads Becken geworden war.
    Sie hatte den Schrein vor mehr als fünf Jahren zum letzten Mal besucht. Danach musste sich diese schreckliche Veränderung vollzogen haben. Gefrorenes Gras und Blumen knirschten unter ihren Schritten. Eiszapfen hingen von den Bäumen herunter, und Raureif glitzerte auf den zerfallenen Resten des kleinen, von vier Säulen gestützten Schreines, welchen die Gläubigen vor vielen Generationen auf dem Fels über dem Becken errichtet hatten. Der Tümpel selbst bildete eine undurchsichtige Masse von Eis, die im Moment des Einfrierens in einer gewaltigen, turbulenten Bewegung gewesen zu sein schien. Das flackernde Licht von Suviels Fackel spiegelte sich in erstarrten Wellen und Wogen.
    Suviel band die Zügel ihres Pferdes an einen Tiefhängenden Ast und wagte sich bis zum Becken vor. Behutsam trat sie auf das Felsfundament des Schreins. Sie sah ein großes Loch in der Oberfläche des Beckens, aus dem spitze Eisdornen wie frostige Klingen hervorragten. Der Rand war von gefrorenen Wellen und Schaum gesäumt. Eine düstere Aura des Bösen schwebte über allem, und der Ort strahlte eine derartige Kälte aus, dass sie unwillkürlich einige Schritte zurückwich.
    Bestürzt und zitternd hüllte sich Suviel fester in ihren Mantel.
Etwas
war aus dem Wasser gestiegen und hatte das Becken und seine Umgebung geschändet. Aber was war es gewesen, und wann war das passiert? Der muffige Gestank des Verfalls, ein sicheres Anzeichen für Brunn-Quell-Hexerei, war hier am deutlichsten wahrzunehmen. Ihre ohnehin schon angespannten Sinne lauschten jetzt noch schärfer auf jede Störung in der Nähe.
    Suviel traf eine Entscheidung. Sie ging langsam zurück, blieb am Ufer stehen, lehnte die Fackel an einen kleinen Felsbrocken und richtete sich auf. Sie stimmte den Gedankengesang der Läuterung an. Die Niedere Macht entfaltete sich in ihr, und die Kälte wich aus ihren Fingern und Zehen. Zu ihren Füßen schmolz das Eis auf dem Gras, und der Rand des Beckens begann zu glänzen und zu tauen. Winzige Fische glitzerten in dem immer größer werdenden Flecken Schmelzwasser, rührten sich, und schlugen mit den Flossen. Plötzlich tauchte eine kleine Gestalt aus dem Eis auf und
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