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Zwölf im Netz

Zwölf im Netz

Titel: Zwölf im Netz
Autoren: Adalbert Seipolt
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Arbeitstag. Sie hatte sich die Lehrstelle gegen den Willen von Mutter, Tante und Bräutigam ertrotzt, aber auf die erhoffte Freiheit wartete sie bisher vergebens. Im Sommer würde die Arbeit leichter werden, meinte sie, die Hauptsaison in Tiberias sei der Winter.
    »Den Sommer über sind wir wahrscheinlich in Jerusalem. Morgen brechen wir auf, zum Paschafest, aber du kannst dir sicher vorstellen, was Jesus dort tun wird: sein Reich ausrufen. Wozu hätte er sonst feierlich angekündigt, daß er nach Jerusalem zieht? Zehntausende schließen sich ihm an. Es kann gar nicht mißlingen. Aber es wird Wochen dauern, bis seine Herrschaft gefestigt ist.«
    »Und ich darf nicht mit«, sagte sie traurig, »die Chefin erlaubt das nie.«
    »Laß den Krempel liegen und komm mit uns! Du bist zwar nicht das einzige weibliche Wesen, aber das einzige, das man vorzeigen kann.«
    Sie schüttelte den Kopf. Da sei beim besten Willen nichts zu machen, aber sie werde sie im Geiste begleiten, von Etappe zu Etappe, sie nähmen doch sicher den Weg über
    Jericho. Und sie drücke ihnen fest die Daumen. »Es grenzt sowieso schon an ein Wunder, daß wir uns so lange allein unterhalten können und uns keine neue Kundschaft stört. Meistens muß ich drei Kunden zugleich bedienen.«
    »Vielleicht hat das der Meister so gefügt, Veronika; es wäre nicht sein erstes Wunder aus der Ferne.«
    In diesem Augenblick bimmelte das Ladenglöckchen, das Wunder war zu Ende. »Schade«, sagte Veronika und erhob sich, um die Kundschaft zu begrüßen. »So ein Pech«, murmelte Philipp, als er die eine der beiden Damen, die eintraten, erkannte. Es war Valeria. Er hätte sich am liebsten unter dem Ladentisch verkrochen, doch Valerias Neugier hatte ihn schon erspäht.
    »Was sehen meine entzückten Augen?« rief sie, affektiert wie immer, und wandte sich zu ihrer Begleiterin. »Claudia, darf ich dir Philipp aus Betsaida vorstellen, meinen ehemaligen Schützling?« Sie winkte Philipp mit dem Fächer heran; er parierte. Tiefer als üblich verbeugte er sich vor den beiden Damen, um seine Beschämung zu verbergen. Und seine Wut. Er hätte Valeria den Fächer ins Gesicht schlagen können. Schützling. Warum nicht gleich Günstling? Was würde Veronika denken?
    Veronika tat sehr gleichmütig, sie räumte die Stiefel weg bis auf das Paar, das Philipp am besten paßte. Doch ihren Ohren entging nichts.
    Valerias Redefluß war nicht mehr aufzuhalten. »Claudia, ich habe dir sicher schon von Philipp erzählt. Ein amüsanter Unterhalter und gelehriger Schüler. Das erlebt man übrigens bei diesen schlichten Landkindern öfters. Ich schwärme ja so fürs Unverfälschte, Urwüchsige. Philipp war immer um Abwechslung bemüht, während dieser langweiligen und überflüssigen Kuren in Tiberias, alle Jahre wieder, nicht wahr, Philipp? Bis auf das letzte Jahr. Da wurde er mir untreu, der Schelm. Er hat sich dem Wunderrabbi angeschlossen, du weißt schon, dem, der unseren Felix geheilt hat und den sie hier als eine Art jüdischen Osiris oder Adonis verehren. Interessant, nicht wahr? Philipp ist einer der ersten Anhänger, zählt sozusagen zum innersten
    Zirkel und hat eine große Zukunft vor sich. Repräsentative Schuhe kauft er sich bereits, wie ich feststelle ; die Barfußlauferei durchs Gelände ist wohl vorüber?« Dabei tätschelte sie ihn mit dem Fächer auf beide Wangen.
    Philipp wünschte sie zum Teufel, aber er bezwang sich und sagte, möglichst sachlich: »Der Meister reist morgen nach Jerusalem, und ich darf ihn begleiten.«
    »Jerusalem, o Gott, erinnere mich nicht daran! Ich muß ja auch in diese gräßliche Stadt. Mein Mann wurde für die Zeit des Osterfestes dorthin abkommandiert. Man befürchtet Unruhen. Weswegen denn bloß?« Sie dachte angestrengt nach.
    »Wegen Jesus von Nazareth«, sagte Veronika bestimmt. Sie hatte inzwischen die Stiefel weggeräumt und war nähergetreten.
    »Natürlich«, rief Valeria, »wegen was denn sonst? Claudia, das trifft sich phantastisch. Da werden wir alles hautnah miterleben: tobende Massen, hinreißende Predigten, echt orientalische Straßenschlachten und dazwischen sensationelle Wunder. Aber bitte kein Blutfließen, Philipp, richte das deinem Meister aus mit vielen Grüßen von der Gattin seines römischen Hauptmanns.«
    »Wie Sie wünschen, gnädige Frau.«
    »Gnädige Frau?« Sie zog die Brauen hoch. »Das klingt aber recht ungnädig aus deinem Mund.«
    »Entschuldigung, aber ich bin für die zehnte Stunde in Betsaida verabredet —
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