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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten
Autoren: Michael Wallner
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Häuserblocks schon zu lesen begannen. Neueste Nachrichten, jeden Tag hieß das Blatt so, von Deutschen geschrieben, redigiert durch die Heeresverwaltung; heute ein einziger Titel, nur ein Artikel füllte die vorderste Seite.
    Am Sonntag 40 Deutsche Mark pro Person.
    In Ingas Kopf begannen die Gedanken zu kreisen – Gelächter seltsamerweise, ein Mann mit lachend geschlossenem Auge, nur ein Auge, der Pferdedoktor, die Narbe hatte gezuckt –, Geld für die Madonna, mit wertlosem Papier bezahlt, obwohl August alles bekannt war, hatte er das Geschäft gemacht.
    Sonnabend, neunzehnter Juni, der erste Tag, an dem Ingas Mutter nicht lebte – der Boden schwankte, der Boden neigte sich –, benommen sah sie sich um. Für alle anderen war dies ein anderer Tag. In den Eingängen, auf der Straße, beim Bäcker, umspielt von der
frühen Sonne standen sie, das Blatt erhoben oder vor sich gebreitet, sie lasen von Umwertung, dem Verschwinden des Kriegsgeldes zugunsten der neuen, einer deutschen Mark. Der Fliegersoldat an der Tankstelle fiel ihr ein, er hatte gesagt, daß die Flugzeuge diesmal nichts abholten, sondern etwas nach Deuschland brachten – das neue Geld. Kopfgeld, fett und inversiv gedruckt, abschreckendes Wort, bis sie verstand, 40 Mark durften sofort eingetauscht werden. Einer schrieb über den Sinn der Währung: Ein neuer Pfad der Wahrhaftigkeit. Sie blätterte – kaufen können  – fiel ihr ins Auge, die Amerikaner wollten vermehrt einführen, Lebensmittel, Kleider, Kulturgüter, welche Kultur? Nicht länger Überlebensgeschenke, Hab und Gut, kaufen können, man wurde erzogen fürs neue Geschäft.
    Inga rollte die Zeitung zusammen, schob sie unter den Arm, das Nächstliegende tun, sie schlug den Weg zum Bestatter ein.
    Dessen Scherengitter war heruntergelassen, sie umrundete das Gebäude, er und Gattin frühstückten manchmal im Grünen, die Gartenmöbel bestanden aus übriggebliebenem Sargholz. Heute entdeckte Inga ihn neben dem Laster, sah das Zeitungspaket auf dem Bordstein, das Blatt in seiner Hand, wünschte guten Morgen.
    Â»Geahnt hat man’s«, sagte er statt einer Begrüßung. »Gespenstisch, wie leer die Schaufenster waren.« Der freundliche Mann war hemdsärmelig, die Hosenträger schlackerten um die Kniekehlen. »Keiner wollte noch etwas herausgeben für die alten Lappen.« Er suchte in Ingas Gesicht nach Zustimmung.
    Â»Mir ist die Mutter gestorben«, sagte sie.
    Er preßte die Zähne auf die Unterlippe, ihre Eröffnung irritierte ihn. »Ich muß erst – die Preise umrechnen.« Es war mehr Voraussicht als Ausrede, er hatte seine Ware der neuen Gegebenheit anzupassen. Inga durchfuhr die Sorge, sich von einer Stunde zur nächsten Mariannes Begräbnis nicht mehr leisten zu können. Neben ihnen fuhr das Lastauto an, sie wandte den Kopf von der Qualmwolke ab.

    Â»Tief empfundenes Beileid«, hatte der Bestatter das Schweigen zur Besinnung genützt und sprach im gewinnenden Ton seiner Zunft. »Kommt der Vater später?«
    Â»Ich regle alles«, antwortete sie.
    Â»Gut gut.« Er zeigte auf seine unkomplette Aufmachung. »Komm in einer Stunde, ich sperr dir dann auf.« Die Zeitung erhoben, eilte er ins Haus. »Der Tag fängt ja gut an!« rief er nach seiner Frau.
    Inga kehrte vor die Auslage zurück – Sarg, Urne, Kranzgesteck  –, auf einem Notenständer die schwarzgerandete Liste des Sortiments, kleingedruckte Preise, sie überflog sie, wie man Mitteilungen einer weggeworfenen Zeitung liest. RM, die alte Abkürzung sprang ihr ins Auge, welches Kürzel würde es für die neue Währung geben?
    Â»Hellbeige Wildlederschuhe«, sagte eine Vorübereilende zu ihrem Begleiter. »Nicht im Schaufenster, die hat er hinten.«
    Â»Kreppsohle?« fragte der Mann.
    Morgens an einem Sonnabend hatte Inga noch keinen rennen gesehen, jetzt aber verfiel die Stadt in unwirkliches Tempo. Sie hatten die Nacht nicht wie Inga durchwacht, wie waren sie so rasch in ihre Kleider geschlüpft? Akkurat wie für einen Arztbesuch oder den Gang zum Amt, stürzten die Föhrdener durch die Straßen, jeder mit der eigenen Sorge, vereint durch die gleiche Zeitung in Händen. Inga begriff die Richtung, es ging zum Schloß; bei den Engländern, die die Neuigkeit ausgestreut hatten, suchte man Genaueres zu
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