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Zweiherz

Titel: Zweiherz
Autoren: Antje Babendererde
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Universum erfüllt von mächtigen Kräften, die allesamt das Potenzial von Gut und Böse in sich trugen. Fehlte die Balance zwischen beidem, wurden die Menschen krank. Der alte Sam konnte herausfinden, welche Ursache eine Krankheit hatte, und durch sein Wissen den richtigen Gesang bestimmen, der Heilung bringen würde.
    Kaye war mit den alten Geschichten ihres Volkes aufgewachsen. Sie glaubte an hózhó , den Pfad der Schönheit, der die Regeln der Ausgewogenheit und Harmonie lehrte. Und sie glaubte auch an die Wirksamkeit der geheimnisvollen Heilzeremonien der Navajo. Aber Kaye hatte keine Angst vor den diyin , den Wissenden Leuten, und erst recht nicht vor Großvater Sam. Vielleicht war er ja in der Lage, zukünftige Geschehnisse vorherzusehen, doch bewirken konnte er sie nicht. Sonst wäre sein Enkelsohn Will längst wieder zu Hause.
    Kaye warf einen Blick auf den Kalender an der Wand, an dem der alte Mann die Tage abstrich. Sie wusste, er zählte die Tage von Wills Haft und befürchtete, die Rückkehr seines Enkels nicht mehr zu erleben. Doch heute war das anders. Irgendetwas war eingetreten, das ihm Hoffnung machte. Was das wohl war? Einen Brief hatte der Alte jedenfalls nicht bekommen, denn den hätte sie ihm sonst vorlesen müssen.
    Vorsichtig entgegnete sie: »Will ist zu zehn Jahren verurteilt worden, Großvater, und er hat erst fünf davon abgesessen. Was macht dich so sicher, dass er bald nach Hause kommt?«
    Insgeheim wünschte sie, der alte Mann würde eine plausible Erklärung für seine Behauptung haben. Eine Erklärung, an die sie glauben konnte. Wie sehr sie sich nach Will sehnte. Kaye sah ihn in der Erinnerung ganz deutlich vor sich. Er war vierzehn gewesen, als sie ihm das letzte Mal gegenübergestanden hatte, und er hatte geweint. Dann war er davongelaufen und hatte sie allein im Water Hole Canyon zurückgelassen. Am nächsten Tag war er wieder nach New Mexico gefahren, und vier Wochen später hatte Sophie ihr erzählt, dass Will im Gefängnis saß.
    Wie er jetzt wohl aussah? Was für ein Mensch war aus ihm geworden, nach einer so langen Zeit hinter Gefängnismauern? Er, der die meiste Zeit seines Lebens unter freiem Himmel verbracht hatte, war nun schon fünf Jahre in einer winzigen Zelle eingesperrt. Vielleicht hatte er Schlimmes gesehen und erlebt im Gefängnis. Kaye hatte Angst, Will könnte nicht mehr derselbe sein, wenn er eines Tages ins Reservat zurückkehren würde. In solchen Momenten zweifelte sie daran, dass sie es schaffen konnte, noch einmal fünf Jahre auf ihn zu warten.
    Bald wurde sie achtzehn und musste ihren Vater nicht mehr um Erlaubnis bitten, um Will zu besuchen. Sie hatte schon oft daran gedacht. Aber Will Roanhorse saß in einem Staatsgefängnis in Texas, mehrere hundert Meilen vom Reservat entfernt. Sie war noch nie so weit weg von zu Hause gewesen. Und sie wusste nicht, ob er sich überhaupt über ihren Besuch freuen würde. Auf keinen ihrer vielen Briefe hatte er jemals geantwortet. Alles, was sie von ihm hatte, waren die wenigen Briefe, die er an seinen Großvater geschrieben hatte. Und darin stand meist nur, dass es ihm gut gehe und der Alte sich nicht um ihn sorgen solle.
    » Atsá , der Adler, hat es mir gesagt«, antwortete Sam schließlich leise auf ihre Frage und schob sich ein weiteres Stück Fleisch in den Mund. »Will wird bald wieder hier sein. Es ist nun genug.«
    Genug war es tatsächlich, schon lange. Kaye fragte nicht weiter nach. Was der Adler Sam Roanhorse erzählte, war meistens eingetroffen, auch wenn es dafür keine Erklärung gab. Der Adler konnte sehr viel mehr sehen als die Menschen, denn seine ausgedehnten Flüge führten ihn weit über die großen Mesas und die tiefen Schluchten der Canyons. Seine Sicht der Dinge war eine völlig andere.
    Doch der Adler hatte dem alten Navajo noch etwas anderes erzählt, etwas, das er dem Mädchen verschwieg. Außer ihm und der jungen Frau gab es noch jemanden, der auf Will Roanhorse wartete. Jemand, vor dem man auf der Hut sein musste, weil es ihm gefiel, die Schwächen anderer für sich selbst auszunutzen. Jemand, für den das Leben ein Spiel war, eine ewige Jagd. Dass auch Zweiherz, der Kojote, auf Wills Ankunft lauerte, würde Sam wohlweislich für sich behalten.

2. Kapitel

    Staatsgefängnis von Gatesville, Texas

    W ill Roanhorse pickte langsam die vergilbten Fotos und Zeitungsausschnitte von seiner Zellenwand und verstaute sie in einem Schuhkarton. Der Karton war voller Briefe. Es waren ungeöffnete
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