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Zweiherz

Titel: Zweiherz
Autoren: Antje Babendererde
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seinen Großvater sorgen.
    Sophie war vor zwei Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückt und Kaye hatte den Dienst ihrer Mutter übernommen. Jeden Sonntag brachte sie dem alten Mann sein Essen. Kaye tat es gern, weil sie Sam mochte. Aber ihre sonntäglichen Besuche bei ihm hatten noch einen anderen Grund. Es war der Junge: Will Roanhorse. Seit fünf langen Jahren saß Sams Enkel verurteilt wegen Totschlags hinter Gittern und hatte noch weitere fünf Jahre abzusitzen. Bei einem heftigen Streit hatte Will den Direktor seiner Internatsschule getötet und war von einem Gericht zu zehn Jahren Haft verurteilt worden - obwohl er damals erst vierzehn Jahre alt gewesen war.
    Kaye und Will, das war von Anfang an etwas Besonderes gewesen. Dass der Junge fort war, hinderte das Mädchen nicht daran, an ihn zu denken. Und wenn sie bei Großvater Sam am Küchentisch saß, dann konnte sie sogar über Will reden.

    Kaye fand, dass sie dem Alten nun genug Zeit gelassen hatte, und trat durch die klapprige Fliegengittertür ins Haus. Großvater Sam saß schon am zernarbten, aber blank gescheuerten Holztisch in der Küche und wartete. Kaye holte einen zerkratzten Emailleteller aus dem Wandschrank und tat dem Alten auf. Geröstete Kartoffeln, Bohnen und Lammgulasch. Das Essen war noch heiß. Für den Weg von der Ranch bis zum Holzhaus von Sam Roanhorse brauchte Kaye nur zehn Minuten.
    »Setz dich, Tochter!«, sagte der alte Indianer, der das gute Essen und die Gesellschaft des Mädchens zu schätzen wusste.
    Kaye reichte ihm Messer und Gabel und setzte sich ihm gegenüber. Er schnitt sich das Fleisch sehr klein, denn er hatte nur noch wenige Zähne. Zu einem Gebiss hatte Kaye ihn bisher nicht überreden können. Ebenso wenig wie zu einer Brille, die er dringend brauchte, weil seine Augen immer schlechter wurden. Sams spärliches, grau meliertes Haar endete in einem winzigen länglichen Knoten am Hinterkopf, der typischen Haartracht der Navajo. Der Indianer war sehr alt. Aber in Wahrheit wusste Kaye nicht, wie alt er wirklich war.
    Um die faltige Stirn hatte Sam ein ausgeblichenes rotes Tuch gebunden. Er trug ein sauberes blau-weiß kariertes Baumwollhemd, denn Kaye kümmerte sich auch um die Wäsche des Alten. Seine abgetragenen Kordhosen wurden von breiten Hosenträgern gehalten. Die Haut des Indianers war sehr dunkel und die Hände knotig vom Alter. Kaye wunderte sich immer wieder aufs Neue, wie er mit diesen Händen und seinen schlechten Augen noch so wunderbare Dinge schaffen konnte.
    Sam Roanhorse war Silberschmied. Silberklopfer, wie die Navajo dazu sagten. Die kunstvollen Schmuckstücke, die in seiner kleinen Werkstatt entstanden - Halsketten, Armreifen, Ringe und Gürtelschnallen aus getriebenem Silber und Türkisen -, waren bei den Touristen als Souvenirs sehr begehrt. Und Kaye sorgte in ihrem Laden im dreizehn Meilen entfernten Window Rock dafür, dass sie gut verkauft wurden. Auf diese Weise sicherte sie dem alten Mann sein Auskommen - auch wenn er eines Tages nicht mehr arbeiten konnte. Die Unterstützung, die er vom Staat bekam, war knapp und reichte kaum für ein einfaches Leben.
    »Hat Will geschrieben?«, fragte Kaye, nachdem sie eine Weile gewartet hatte.
    Es war die eine Frage, die sie Sam Roanhorse immer wieder stellte. Jeden Sonntag, wenn sie ihm das Essen brachte. Und fast immer war die Antwort des alten Mannes dieselbe: Er richtete seine Augen auf das Mädchen und schüttelte bedauernd den Kopf. Auch diesmal war ein Kopfschütteln die Antwort, doch etwas war anders, das spürte Kaye sofort.
    »Es ist jetzt fast zwei Monate her, dass du den letzten Brief von ihm bekommen hast, Großvater. Ich mache mir Sorgen.«
    Der alte Mann schluckte hinunter, was er sorgsam zwischen Gaumen und Zunge zermahlen hatte, und stellte eine unerwartete Behauptung in den Raum: »Mein Enkelsohn wird bald nach Hause kommen, Tochter. Du und ich, wir haben lange genug gewartet.«
    Ein freudiger Schreck jagte durch Kayes Körper. Sie spürte, wie Röte ihre Wangen überzog und es in ihrer Magengegend seltsam zu flattern begann. Einige Zeit verstrich, bis sie ihre Gedanken ordnen und darüber nachdenken konnte, was der Alte gesagt hatte. Großvater Sam konnte manchmal voraussehen, was passieren würde. Er hatte ein Gespür für solche Dinge, einen Sinn mehr als andere Menschen. Sam Roanhorse war ein hataalíí , ein Sänger und Heiler; jemand, der in der Lage war, schwierige Fragen zu beantworten und Dinge vorherzusehen. Für ihn war das
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