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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Autoren: Sennett Richard
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sofern diese niemanden veranlassen, das Gespräch abzubrechen.
    Eine Probe kommt nicht voran, wenn ein Musiker seine Vorstellung von der »Bedeutung des Schubert-Oktetts« einbringt oder alle Beteiligten dessen kulturelle Bedeutung diskutieren. In diesem Fall würde aus der Probe gleichsam ein Seminar. In Wirklichkeit verlaufen Proben nur selten wie philosophische Seminare. Musiker mit guten Probenfähigkeiten arbeiten eher forensisch und befassen sich mit konkreten Problemen. Gewiss sind viele Musiker sehr eigensinnig in ihren Auffassungen (auch ich gehöre dazu), doch diese Auffassungen beeinflussen andere Musiker nur, wenn sie einzelne Momente des kollektiven Klangs prägen. Dieser Empirismus ist wohl das auffälligste Merkmal der künstlerischen Zusammenarbeit während der Proben. Die Kooperation wird von Grund auf entwickelt, da die Beteiligten wichtige, aussagekräftige Eigenheiten finden und herausarbeiten müssen.
    Auch hinsichtlich der Zeit bestehen Unterschiede zwischen Üben und Proben. Berufsmusiker können acht oder mehr Stunden am Stück für sich allein üben. Sie haben gelernt, den Prozess der »forschenden Wiederholung« zu strukturieren, so dass sie in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit über lange Zeit aufrechtzuerhalten. Der Geiger Isaac Stern war ein Virtuose auf diesem Gebiet. Er erzählte mir einmal: »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, aber am Ende ist es mir gelungen, die Eröffnungstakte des Brahms-Konzerts hinzubekommen.« Proben dauern bei Berufsmusikern dagegen selten länger als drei Stunden am Stück, und das zum Teil aufgrund arbeitsrechtlicher Regelungen und anderer ökonomischer Beschränkungen. Wenn man Glück hat, gibt es vor der ersten Aufführung eines Stücks fünf oder mehr Proben, doch in der Regel sind es allenfalls zwei oder drei. In diesem kurzen Zeitraum muss viel kollektive Arbeit geleistet werden. Musiker müssen mit ihrer Zeit haushalten, wenn sie die wichtigen, aussagekräftigen Eigenheiten eines Stücks erkunden.
    Die Gespräche, die Berufsmusiker während der Proben miteinander führen, sind meist geselliger Natur, denn es sind Gespräche unter Fremden. Berufsmusiker sind häufig unterwegs. Das gilt vor allem für die Stars unter ihnen, die ständig mit anderen Orchestern oder neu zusammengestellten Gruppen arbeiten. Selbst bei Musikern, die eine feste Heimat in einem Orchester gefunden haben, ist die übrige Zeit angefüllt mit zusätzlichen Auftritten, die oft außerhalb der Stadt in Kirchen, auf Hochzeitsfeiern oder in anderen Konzerthallen stattfinden. Die Notwendigkeit, mit Fremden zu kommunizieren, schärft die Suche nach den Eigenheiten, denn man hat dafür nur wenige gemeinsame Stunden.
    Eine Lösung dieses Problems liegt in einer Reihe übertragbarer Rituale. Jeder Musiker entwickelt einige Ausdrucksgewohnheiten, die er direkt auf wichtige Passagen anwenden möchte. Als ich mit dem Schubert-Oktett unterwegs war, hatte ich in meiner Partitur wichtige Passagen markiert, die meines Erachtens etwas langsamer gespielt werden sollten, in denen ich also melodisch »den Zug verlassen« wollte. Das Ritual bei den Proben besteht darin, diese Eintragungen mit anderen zu teilen. Haben andere sie ähnlich markiert, können wir uns direkt der Frage zuwenden, wie langsam wir sie spielen wollen. Haben sie dies nicht getan, muss zunächst geklärt werden, ob sie langsamer gespielt werden sollen oder nicht. Das Ritual der Markierung von Passagen besitzt auch eine symbolische Aussagekraft, denn sie sagt den übrigen Musikern, welche Art von Musiker man ist, welchen Strich oder welche Dynamik man bevorzugt. Kollegen können so intuitiv erfassen, wie man wohl andere, nicht markierte Passagen spielen wird, die daher nicht eigens geprobt werden müssen.
    Dank solcher Rituale funktioniert die dem Ausdruck geltende Kooperation – und das ist ein wichtiges Element. Wie wir noch sehen werden, ermöglichen Rituale die Ausdruckskooperation in religiösen Kontexten, am Arbeitsplatz, in Politik und Gesellschaft. Gewiss sind ganze Nächte, die man mit den Mysterien des Schubert-Oktetts verbringt, nicht jedermanns Sache, sondern stehen eher für eine außergewöhnliche Lebensweise. Außerdem habe ich hier noch keinen direkten Vergleich zwischen den Proben von Musikern und denen unserer nahen Verwandten, der Berufssportler, angestellt, bei denen sich eine weitere hochspezialisierte Form von Kooperation findet. Doch die Erfahrung, die ich als junger Berufsmusiker machte, baut auf
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