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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Autoren: Sennett Richard
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einer elementaren menschlichen Grundlage auf. Die Verbindung zur frühen Kindheit liegt in der Kommunikation über Mehrdeutigkeiten; in einer Praxis, die mit der Zeit strukturiert und fokussiert wird; in Gesprächen über Unterschiede; in Praktiken, die reflexiver Selbstkritik unterzogen werden. 20 Probende Musiker sind erwachsene Eriksonianer. Sie müssen sich zu wechselseitigem Nutzen untereinander austauschen und interagieren. Sie müssen kooperieren, damit Kunst entsteht.

Dialektische und dialogische Gespräche

    Es gibt eine Übereinstimmung zwischen der musikalischen Probe und der verbalen Konversation, hinter der sich jedoch ein Rätsel verbirgt. Die Kommunikation zwischen Musikern besteht in weiten Teilen aus dem Hochziehen der Augenbrauen, aus leisem Grunzen, kurzen Blicken und anderen nonverbalen Gesten. Und wenn Musiker etwas erklären möchten, zeigen sie es eher, als dass sie es in Worte fassten, das heißt, sie spielen den anderen die betreffende Passage vor und überlassen ihnen die Deutung dessen, was sie da tun. Es fiele mir sehr schwer, in Worten auszudrücken, was ich meine, wenn ich sage: »Vielleicht etwas mehr espressivo .« In Gesprächen müssen wir dagegen geeignete Worte finden.
    Dennoch ähneln musikalische Proben jenen Gesprächen, in denen die Fähigkeit, anderen zuzuhören, ebenso wichtig ist wie die Fähigkeit zu klarem Ausdruck. Der Philosoph Bernard Williams übt eine vernichtende Kritik am »Behauptungsfetischismus«, dem Drang, unter allen Umständen recht zu behalten, als käme es allein auf den Inhalt an. 21 Die Fähigkeit des Zuhörens spielt bei solch einem verbalen Wettstreit kaum eine Rolle. Der Gesprächspartner soll voller Bewunderung zustimmen oder ähnlich selbstbewusst kontern – der bekannte Dialog zwischen Tauben, wie wir ihn oft in der Politik erleben.
    Auch wenn ein Gesprächspartner sich ungeschickt ausdrückt, kann der gute Zuhörer es nicht mit der bloßen Tatsache dieses Ungenügens bewenden lassen. Der gute Zuhörer muss auf die Absicht, die Anregung eingehen, wenn das Gespräch weitergehen soll.
    Aufmerksames Zuhören führt zu zwei Arten von Gesprächen, dialektischen und dialogischen. In der Dialektik soll, wie wir in der Schule gelernt haben, das sprachliche Spiel der Gegensätze schrittweise eine Synthese hervorbringen. Dialektik beginnt mit der von Aristoteles in seiner Politik gemachten Beobachtung, dass etwas als »dasselbe Ding« bezeichnet wird, obwohl es dies nur »dem bloßen Namen nach« ist. Das Ziel besteht darin, am Ende zu einem gemeinsamen Verständnis zu gelangen. 22 Geschicklichkeit im Umgang mit Dialektik heißt herausfinden, wie man solch eine gemeinsame Grundlage herstellen kann.
    Über diese Fähigkeit schreibt Theodore Zeldin in einem klugen Büchlein über das Gespräch, der gute Zuhörer erkenne die gemeinsame Grundlage eher in dem, was der andere annimmt, als in dem, was er sagt. 23 Der Zuhörer entwickelt diese Annahme, indem er sie in Worte fasst. Man greift die Absicht und den Kontext auf, expliziert sie und spricht darüber. Eine weitere Fähigkeit zeigt sich in den Platonischen Dialogen, in denen Sokrates sich als sehr guter Zuhörer erweist, wenn er die Aussagen seiner Gesprächspartner »mit anderen Worten« wiederholt. Doch er wiederholt nicht wirklich, was sie gesagt oder eigentlich gemeint haben. Das Echo ist vielmehr ein Ersetzen. Deshalb ähnelt die Dialektik in Platons Dialogen nicht der Argumentation, also einem sprachlichen Duell. Die Antithese zur These lautet nicht: »Du irrst dich, du Dummkopf.« Vielmehr kommen Missverständnisse und Aneinandervorbeireden ins Spiel, und Zweifel werden vorgetragen. Dann müssen die Beteiligten einander genauer zuhören.
    Etwas Ähnliches geschieht in der Musikprobe, wenn ein Musiker sagt: »Mir ist nicht ganz klar, was Sie da machen. So etwa?« Die Wiederholung veranlasst einen, noch einmal über den Klang nachzudenken, und vielleicht verändert man ihn, aber man kopiert nicht einfach das Gehörte. Es ist ein Wechselspiel, bei dem niemand vorher weiß, wohin es führen mag.
    Der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin prägte den Ausdruck »dialogisch« zur Kennzeichnung einer Diskussion, die nicht darauf hinausläuft, dass man Übereinstimmungen findet. Obwohl man möglicherweise nicht zu gemeinsamen Auffassungen gelangt, werden die Beteiligten sich durch den Austausch ihrer eigenen Sichtweise stärker bewusst und entwickeln ein besseres Verständnis füreinander. Die
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