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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Alain Claude Sulzer
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umgebracht hatte, dessen Namen sie noch heute nur widerwillig aussprach, griff sie gedankenlos nach dem Umschlag und wendete ihn mehrmals zerstreut in ihren Händen. Natürlich öffnete sie ihn nicht. Ihr undurchdringlicher Blick war auf etwas anderes gerichtet. Sie legte den Brief einfach wieder auf den Tisch.
    Sebastian Enz’ Mutter, soviel stand fest, hatte meinen Vater zu erpressen versucht, vielleicht, das blieb ungewiß, auch ihren eigenen Sohn. Ob sie Geld gefordert und damit gedroht hatte, ihr Wissen an die Öffentlichkeit zu tragen, sollte sie es nicht erhalten, und damit dem Ruf aller zu schaden, auch ihrem eigenen, wußte meine Mutter nicht. Sie hatte Renate Enz nie gesehen, obwohl diese nach dem Tod ihres Sohnes mehrmals versucht hatte, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Geld hatte ihr mein Vater bestimmt nicht gegeben, denn Geld hatte er sowenig besessen wie meine Mutter oder Sebastian. Hätte er meinen Großvater um Geld gebeten, wäre es meiner Mutter nicht verborgen geblieben. Nein, Geld war wohl nicht im Spiel gewesen. Sie schaute mich an. Vielleicht fürchtete sie, ich hätte vor, zu tun, wozu sie nicht bereit gewesen war, nämlich mit Sebastians Mutter zu sprechen, jedenfalls sagte sie:
    »Sie lebt nicht mehr. Sie hat sich mit dieser Sache keinen guten Dienst erwiesen. Alles, was sie hatte, hat sie verloren: ihren Sohn, ihre Selbstachtung und ihren Anstand. Sie hat den Tod zweier Menschen auf dem Gewissen. Ich will nicht wissen, wie man damit lebt. Sie hat den Tod deiner Großmutter beschleunigt. Sie hat die vorzeitige Geschäftsaufgabe deines Großvaters veranlaßt und seinen Umzug nach Lugano. Irgendwelche Gerüchte drangen doch an die Öffentlichkeit. Ich will über sie nicht mehr sprechen. Man sprach über die Sache. Ich schwieg. Ich wollte nicht darüber sprechen. Ich wußte zuviel und zuwenig,um mir eine Meinung anzumaßen, mit der sich etwas anfangen ließ. Es war nichts rückgängig zu machen. Ich hatte ihn verloren. Das war entsetzlich und unsäglich traurig. Aber ich hatte dich, das nahm dem Schmerz das Uferlose. Das war die Rettung. Erst fiel es mir schwer, ihn nicht zu hassen. Aber man kann einen Toten, den man einmal liebte, nicht allzu lange hassen. Zwei Menschen, von denen ich kaum etwas wußte. Was man nicht versteht, sollte man nicht hassen. Wenn man es trotzdem tut, begeht man eine Sünde, auch wenn man den Glauben längst verloren hat.«
    »Enz’ Mutter konnte es wohl doch.«
    »Ja. Sie konnte das.«
    Sie wußte nichts über die Ursache dieser ungeheuerlichen Tat. Vielleicht nur Enttäuschung und Mißgunst, der Wunsch, die anderen für ihr Schicksal verantwortlich zu machen, ein Leben ohne Erfüllung außer diesem Sohn, der den Erwartungen der Mutter nicht entsprach, ein verzweifeltes Streben nach etwas Macht in diesem großen Reich der Niederlagen, einer Macht, die sich buchstäblich darin erschöpfte, andere, die ihrem Sohn zu nahe kamen, zu Fall zu bringen.
    Doch das waren Überlegungen, die, immer etwas formlos bleibend, nie recht greifbar, erst im Lauf der Jahre in mir heranreiften, vor allem nachdem ich selbst Vater geworden war und mir ein Bild dieser Mutter zu machen versuchte, die ihren Sohn und dessen Geliebten mit ihrem Verhalten in den Selbstmord getrieben hatte. Es will sich bis heute aus dem milchigen Nebel kein Gesicht herausbilden, nichts Menschliches vor diese Unbekannte schieben.
    Ich weiß nicht, wie sie aussah. Vielleicht würde mir ihre Fotografie weiterhelfen. Doch wozu? Ich würde ihr die nachträgliche Genugtuung, daß einer wie ich, der Sohn ihresFeindes, Verständnis für die Gemütslage empfinden könnte, die zu diesem Brief führte, nicht gönnen. Manchmal habe ich ihr einen qualvollen Tod gewünscht. Daß ich mich damit auf ihr eigenes Niveau begab, wurde mir bald klar. Also ließ ich es dabei bewenden und verbannte sie nach und nach aus allen meinen Überlegungen.
    Im Abschiedsbrief meines Vaters, den meine Mutter noch vor seiner Beerdigung vernichtete, war von Erpressung die Rede.
    »Er schrieb, er werde von der Mutter seines Geliebten erpreßt«, sagte sie.
    Das Wort war deutlich genug, um jede andere Ursache für den Selbstmord auszuschließen, der im übrigen in diesen letzten Zeilen an meine Mutter unmißverständlich angekündigt wurde. Doch war der Tatbestand der Erpressung für meine Mutter von geringerer Bedeutung und weniger leidvoll als der Befund, daß ihre Ehe eine Farce, ein Vorwand, ein Schutzschild gewesen war – es gab noch viele andere
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