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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Alain Claude Sulzer
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Augenblick gekommen, der Zeitpunkt war da. Wie die Entscheidung aussehen würde, glaubte Emil zu wissen. Sie würde anders ausfallen, als sie es sich wünschten, aber genau so, wie es ihren beschränkten Fähigkeiten, mithin ihrer Unzulänglichkeit entsprach.
    Sebastian gab einen beängstigenden Laut von sich. Etwas, was mit Gewalt im Keim erstickt wurde. Emil drehte sich nicht um, er starrte weiter aus dem Fenster, er wollte nichts hören, weder zerspringendes Glas noch reißendes Tuch. Niemand war auf der Straße, niemand hinter einem Fenster, weder Licht noch Bewegung. Er wollte es nicht mitansehen, er drehte sich um, doch er roch es, roch die Angst, den Zweifel, die Verzweiflung und das Ende, und er hörte den sirrenden Flug des Pendels. Er glaubte, einen Schatten über den Spiegel huschen zu sehen.
    »Wenn wir es heute nicht beenden, müssen wir es später tun. Wenn wir es später nicht tun, werden es eines Tages die Umstände beenden. Ich meine die anderen. Möchtest du das? Kannst du dir das vorstellen?«
    Er hörte, daß Sebastian alles, was er hätte sagen können, unterdrückte. Zug. Bahn. Reise. Zug, Bahn, Reise, fort, dachte Emil, an nichts anderes wollte er denken.
    »Ich habe dieses Leben gewählt, eine Frau und am Ende ein Kind. Am Ende kommt immer ein Kind. Ein Kind und die Verantwortung dafür. Vielleicht nicht nur dieses, sondern noch mehr Kinder. Wir sind eine Familie. Zu Hause warten meine Familie, meine Frau und mein ungeborenes Kind. Dort haben wir beide nichts verloren. Am besten packen wir jetzt gleich«, sagte er. »Am besten nehmen wir den frühesten Zug zurück. Wir setzen uns in zwei verschiedene Abteile, in zwei verschiedene Waggons, so weit wie nur möglich voneinander entfernt, und beginnen von vorne.«
    Irgendwann hatte er das alles schon gesagt, schon erlebt, genau so. Um nicht zu hören, was hinter ihm geschah, preßte er beide Hände an die Ohren, so fest, bis es im Inneren seines Kopfes rauschte.
    »Nein! Nein.«
    Er hörte es doch. Um ihn herum war alles dunkel. Sebastian darum zu bitten, die Nachttischlampe oder das Deckenlicht anzuschalten, gelang ihm nicht. Wollte er das? Er wollte sich nicht umblicken. Er wollte weiter aus dem Fenster schauen, wo außer einer Außenwand mit vielen Fenstern, hinter denen sich nichts und niemand bewegte, nichts war. Das Zimmer, in dem sie sich aufhielten, begannschon Erinnerung zu werden, eine erste Tür, die sich nach innen öffnete und nach außen schloß. Irgendwo dazwischen, zwischen Tür und Angel, stand er. Ein wirres, stockendes Durcheinander. Er konnte es nicht. Er konnte sich nicht festhalten. Ein Ort ungestillter, unstillbarer Sehnsucht. Er hatte in K. Menschen gesehen, die Stimmen und Geräusche hörten, die es nicht gab, und es wäre beruhigend gewesen, in diesem Moment das Pfeifen des Zuges, das Stampfen der Räder, das Fauchen der Lokomotive, den Ausstoß des Dampfes zu vernehmen. Doch da war nichts, außer Sebastians Keuchen und Zittern und Schreien. So endete also alles. Das war also die Entscheidung. Im Nebenzimmer schlug jemand gegen die Wand: »Silence! Merde!« Waren sie so laut?

    Unangetastet lag der Brief auf der Zeitung, die Veronika nie las, bevor er sie nicht durchgeblättert hatte. Er nahm ihn und wendete ihn um. Veronika machte sich in der Küche zu schaffen, sie hatte ihn nicht kommen hören. Er horchte. Das Radio lief. Wenn es sich einrichten ließ, kam er mittags nach Hause. Veronika kochte lieber mittags als abends. Sie war keine gute Köchin.
    Er glaubte dem Umschlag anzusehen, daß er Unheil bedeutete. Sebastians Mutter hatte keinen Grund, ihm zu schreiben. Sie kannte ihn nicht. Er kannte sie nicht. Die Absenderin hatte auf der Rückseite ihren Namen nicht ausgeschrieben, doch die Initialen waren deutlich genug. Frau R. E. Die beiden Buchstaben, klein und gedrängt, als wollten sie sich verstecken, sowie der Straßenname und die Hausnummer, die keinen Zweifel daran ließen, daß sie geschrieben hatte. Sebastians Mutter. Er war ihr nie begegnet. In ihrem Wohnzimmer, das man durchqueren mußte, um in Sebastians Schlafzimmer zu gelangen, hing kein Foto von ihr.
    Erkannte nicht einmal ihren Vornamen. R stand für Roswitha oder Regula. Andere weibliche Namen mit R fielen ihm nicht ein. Er blickte auf den Umschlag. Eine Spur Erde hätte ihn nicht überrascht, sie kam schließlich mit Erde in Berührung. Aber der Umschlag war weiß und fleckenlos, mit ordentlich aufgeklebter Briefmarke. Als ob sie sich bemüht hätte,
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