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Zum ersten Mal verliebt

Titel: Zum ersten Mal verliebt
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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der Pfeifer aus deinem alten Traum wohl doch noch zum Zuge.« »Das war kein Traum«, sagte Walter versonnen. »Das war eine Vorahnung, eine Vision. Jem, ich habe ihn damals wirklich einen Augenblick lang gesehen! Was ist, wenn England wirklich mitkämpft?«
    »Na, dann werden wir wohl helfen müssen!«, rief Jem erfreut. »Wir können doch nicht die >alte graue Mutter des Nordmeeres< im Stich lassen, oder? Aber du kannst sowieso nicht mitmachen. Der Typhus hat schon dafür gesorgt. Schade, oder?« Walter gab keine Antwort. Er blickte nachdenklich hinaus auf das glitzernde blaue Meer am Horizont.
    »Wir sind die Abkömmlinge. Wir müssen mit Händen und Füßen kämpfen, falls es zu einem Familienkrach kommt«, redete Jem munter weiter und fuhr sich mit seiner starken, feinnervigen Hand durchs Haar, die Hand des geborenen Chirurgen, wie sein Vater oft dachte. »Das wäre doch ein Abenteuer! Aber wahrscheinlich werden Grey oder ein paar andere von diesen alten, besonnenen Burschen kurz vor Toresschluss die Dinge schlichten. Aber es wäre schon eine Schande, wenn sie Frankreich im Stich ließen. Wenn nicht, dann kann es heiter werden. So, wir sollten uns langsam für die Leuchtturmparty fertig machen.«
    Damit ging Jem fröhlich pfeifend hinaus, während Walter noch eine ganze Weile regungslos dastand. Er machte ein ernstes Gesicht. Das alles war über ihn hereingebrochen wie eine schwarze Gewitterwolke. Vor wenigen Tagen hatte noch kein Mensch an so etwas gedacht. Es war auch unsinnig, jetzt daran zu denken. Irgendeinen Ausweg würde man doch finden! Krieg - das war doch etwas ganz Entsetzliches. So etwas Entsetzliches konnte doch unmöglich im zwanzigsten Jahrhundert unter zivilisierten Völkern Vorkommen! Der Gedanke allein war schon entsetzlich und machte Walter ganz unglücklich. Das Leben mit all seiner Schönheit stand auf dem Spiel. Er würde einfach nicht daran denken, den Gedanken aus seinem Gehirn ausschalten. Wie schön die reifen Getreidefelder von Gien aussahen, die laubenähnlichen alten Gehöfte, die Heuwiesen und stillen Gärten! Der Himmel sah im Westen aus wie eine große goldene Perle und weit draußen senkte sich der Mondschein auf den Hafen herab. Die Luft war angefullt mit den wohlklingendsten Tönen: dem Pfeifen der schläfrigen Rotkehlchen, dem traurigen, sanften Murmeln des Windes in den schattenhaften Bäumen, dem Rascheln der Zitterpappeln, die einander zuwisperten und ihre zierlichen, herzförmigen Blätter schüttelten, und dem fröhlichen Lachen aus den Fenstern, hinter denen sich die Mädchen auf die bevorstehende Tanzparty vorbereiteten. Die Welt war so voller unglaublich lieblicher Klänge und Farben! Nur daran wollte er denken und sich mit ganzem Herzen daran erfreuen. Von mir wird sowieso niemand erwarten, dass ich gehe, dachte er. Wiejem schon sagte, der Typhus hat dafür gesorgt.
    Rilla lehnte sich aus ihrem Zimmerfenster, bereit zum Ausgehen. Ein gelbes Stiefmütterchen löste sich aus ihrem Haar und fiel wie ein goldener Stern über das Fensterbrett hinaus. Sie versuchte vergeblich es noch zu erhaschen. Aber es waren noch genug andere übrig. Miss Oliver hatte ihrem kleinen Liebling einen Blumenkranz fürs Haar geflochten.
    »Ist es nicht herrlich ruhig und still? Es wird ein wunderbarer Abend werden. Hören Sie doch mal, Miss Oliver! Die alten Glocken im Regenbogental, ich höre sie ganz deutlich! Seit mehr als zehn Jahren hängen sie nun schon dort.«
    »Ihr Windspiel erinnert mich immer an die überirdische Musik, die Adam und Eva in Miltons Paradise lost hörten«, sagte Miss Oliver.
    »Wir hatten so viel Spaß im Regenbogental, als wir noch Kinder waren«, sagte Rilla verträumt.
    Jetzt spielte niemand mehr im Regenbogental: keine Meredith-Kinder mehr und keine Blythe-Kinder. Im Sommer war es abends ganz still dort. Walter ging gern dorthin, um zu lesen. Jem und Faith trafen sich oft dort, und Jerry und Nan führten im Regenbogental endlose Diskussionen über irgendwelche tiefgründigen Themen, was anscheinend ihre bevorzugte Art des Flirtens war. Auch Rilla hatte sich dort eine hübsche bewaldete Stelle ausgesucht, wo sie sich einfach gern alleine hinsetzte und träumte.
    »Bevor ich gehe, muss ich unbedingt noch schnell in die Küche und mich Susan zeigen. Sie würde mir das nie verzeihen, wenn ich es vergesse.«
    Damit wirbelte Rilla hinunter in die dämmerige Küche, wo Susan mit Strümpfestopfen beschäftigt war, und erhellte den Raum mit ihrer strahlenden Schönheit.
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