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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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preisgegeben. Ich raste aus. Ich heule und tobe vor Wut und vor Kränkung.
    Hört’s auf, die Kleine zu sekkieren, sagen die Eltern. Daraufhin beschränken sich die Buben darauf, nur die bewusste Melodie zu summen. Taram, taram, taramtamtamtam. Oder nur »Tisch« zu sagen. Wiederum Geheule. Was ist jetzt wieder? Unschuldige Mienen. Wir haben doch nur »Tisch« gesagt. Eine komplizierte Assoziationskette: Vor dem Tisch steht die Bank, auf der Bank liegt das Geld, und Geld klingt so wie gelt, Mutzi. Ich verstehe das auch sofort und heule neuerlich los. Jetzt wird es den Eltern zu dumm, und nun werde ich gescholten. Ich soll nicht »faxig« sein und aufhören mit dem Theater. Und schämen soll ich mich. Aber in Wahrheit sollen sich doch die andern schämen. Oder doch ich?
    Denn die eigentliche Wurzel des ganzen Unglücks liegt ja darin, dass ich im Grunde meines Herzens den Brüdern Recht geben muss. »Schmeichelpampele« und »gelt« zu sagen, ist tatsächlich peinlich und kitschig und, wenn man ehrlich ist, unmöglich. Aber ich liebe Ria doch und will unter allen Umständen mit ihr solidarisch sein. Alles andere wäre Verrat. Habe ich Ria womöglich innerlich schon verraten? Verwirrung der Gefühle. Und wieder ein Grund zum Weinen. Es ist ein Konflikt zwischen Geschmack und Überzeugung, die frühe Erfahrung eines Dilemmas, das mir später noch öfter begegnen wird. Man steht zwischen zwei Lagern, mag das eine nicht hassen und das andere nicht verurteilen. Und fragt sich mit zunehmender Verzweiflung: Und ich? Wohin gehöre eigentlich ich?

Barbara, zirka 1938
    Irgendwann verlässt uns Ria. Die Erwachsenen haben sich darauf verständigt, dass mir dieses Ereignis vorher nicht mitgeteilt wird. Der traumatische Abschied soll mir erspart werden. Kein Abschied, keine Tränen. Eines Tages ist Ria einfach weg. Sie ist zu Hause in Südmähren, höre ich, ihre Familie braucht sie. Von dort aus schreibt sie meiner Mutter Briefe und Postkarten, in denen sie mich grüßen lässt. Mami möchte mir diese Briefe vorlesen, aber ich will davon nichts hören. Ich halte mir die Ohren zu und laufe aus dem Zimmer. Ich will nicht an Ria denken und nicht an sie erinnert werden. An meine Ria, die mich verlassen hat. Es ist zu schmerzhaft. Da ist eine Wunde, die nicht und nicht heilen will. Es ist der erste wirkliche Schicksalsschlag in meinem Leben.
    Nach Ria kommt das Fräulein. Eigentlich heißt das Fräulein Anni Nosek, es spricht deutsch mit leichtem tschechischem Akzent. Aber inzwischen ist aus der Tschechoslowakei das Protektorat Böhmen und Mähren geworden, und Anni Nosek ist nun deutscher als deutsch. Sie legt Wert darauf, keine Kindsfrau zu sein, sondern eine Erzieherin, sie will nicht Anni genannt werden, sondern Fräulein, und sie trägt ihr Haar nicht, wie andere Leute, in einem Dutt, sondern in deren zwei. Ihr Haar ist blond, das Fräulein flicht es zu zwei Zöpfen und steckt diese fest, aber nicht in Schnecken über den Ohren – so etwas habe ich schon in Bilderbüchern gesehen –, sondern in zwei Knoten am Hinterkopf. Fräulein, warum hast du diese Frisur? Die Antwort: Weil sich so der Führer eine deutsche Frau vorstellt. Seither halte ich aufmerksam Ausschau nach Frauen mit Doppeldutt und nach entsprechenden Äußerungen des Führers. Vergeblich. Aber unser Fräulein ist eben etwas Besonderes. Ich freilich, inzwischen sieben Jahre alt, mag es nicht, vor allem deshalb, weil es nicht Ria ist.
    Das Fräulein ist zuständig für »die Kleinen«, für den kleinen Bruder Michael und für mich. Die großen Brüder, kollektiv nur »die Buben« genannt, haben mit ihm nichts zu tun und sind nur den Eltern verantwortlich. Sie gehen ihre eigenen Wege. Sie haben ein Luftgewehr, damit schießen sie auf das Messingpendel der Uhr in ihrem Wohnzimmer. Die Wand dahinter ist dicht gesprenkelt mit kleinen Einschusslöchern. Sie schießen auch auf Spatzen und haben einmal Emilka, die Köchin, dazu gebracht, fünf Spatzen, die sie erlegt haben, für sie zu braten. Sie haben sie gerupft und in die Küche getragen, und Emilka hat sie gewürzt und ins Bratrohr geschoben. Als knusprig braune Häuflein kommen sie heraus, fünf arme, winzige Puppenhühnchen. Ich darf kosten, mag aber nicht. Die Buben schnabulieren sie auf, samt den hauchzarten Knöchelchen. Es knackst, und mir wird gruselig beim Zuschauen.
    Ich bin ein Sandwichkind, fünf und vier Jahre jünger als die Buben und sechs Jahre älter als Michi, der Jüngste. Der Kleine ist zu klein,
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