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Zuckerleben: Roman (German Edition)

Zuckerleben: Roman (German Edition)

Titel: Zuckerleben: Roman (German Edition)
Autoren: Pyotr Magnus Nedov
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wie bei einem Raubtier, das Beute gewittert hat.
    »Wo?«
    Zuckerfabrikdirektor Hlebnik ist zwischen den Zentrifugen ganz Ohr.
    Als das Mädchen mit dem Teddybären gerade antworten will, reißt die Verankerung der linken Zentrifuge mit einem starken Geklämper. Hlebnik stößt einen saftigen ukrainischen Dorffluch heraus. Die beiden Kinder sehen hinauf, und ihre Blicke treffen für den Bruchteil einer Sekunde auf die neugierigen und vom intensiven Alkoholkonsum während der Gorbatschow’schen Prohibition etwas wässrig gewordenen Pupillen des Zuckerfabrikdirektors. Augenblicklich verschwinden die Kinder, wie verschreckte Erdmännchen. Hlebnik sieht sich um. Jascha Heifetz ist auch nicht mehr da. Der Apparatschik atmet geräuschvoll aus.
    Hlebnik ist verärgert. Normalerweise ist der Leiter der Zuckerfabrik von Dondușeni imstande, sich in seinen Träumen besser zu orientieren; und zwar vom Platz zwischen den Zentrifugen aus, wie er vor geraumer Zeit herausgefunden hat. Doch diesmal hat er die Kontrolle über den Traum verloren. Direktor Hlebnik ist jedoch erfahren genug in der Materie, um zu wissen, dass das, was er soeben gesehen hat, nichts Gutes verheißen kann. Womöglich muss er sich Sorgen machen um seine 40   Tonnen Zucker. Direktor Hlebnik beschließt, unverzüglich das Medium Lidia Iwanowna in dieser Angelegenheit zu konsultieren.
    Des Mediums Prognose
    Die pensionierte Kommissarin für Lebensmittelindustrie des Rayonalen Sowjets Nord der Moldawischen Sowjetischen Sozialistischen Republik ( MSSR ) und Trägerin des Rotbannerordens Lidia Iwanowna Cernei lässt sich nichts anmerken. Ganz ruhig legt sie die Karten auf den Tisch, die sie in verschiedenen Anreihungen gliedert und aufdeckt. Sie murmelt etwas Mantraartiges vor sich hin, deckt einige Karten wieder zu, wieder auf, legt sie anders aufeinander, steht auf, holt von einem Regal ein 5-Liter-Einmachglas, das bis zur Hälfte mit einer undefinierbaren trüben Flüssigkeit gefüllt ist, und stellt es auf den Tisch. Anschließend verschwindet sie für kurze Zeit und kommt mit drei Hühnereiern wieder, schlägt sie an und befördert die Eidotter ins Glas, während sie Unverständliches vor sich hin murmelt.
    »Bist du dir ganz sicher? Ich meine, sind das keine neurotischen Erscheinungen oder irgendein Gespinst aus dem Jenseits?«, fragt Direktor Hlebnik über den Tisch, erstaunt feststellend, dass die Eidotter eine eigenartige Symbiose mit der trüben Flüssigkeit eingehen und zischende Kreiselbewegungen im Glas beschreiben. Als es dann auf einmal ruhiger wird im Behälter, dreht Lidia Iwanowna eine verdeckte Karte in der Mitte auf.
    »Das Signal ist ganz klar, Hlebnik. Und wenn du mir nicht glaubst, so kannst du gleich abhauen, ich hab schließlich sehr viele Klienten heute«, antwortet das Medium und deutet zum Verandafenster, durch das die lange Menschenschlange, die die Dienstleistungen Lidia Iwanownas benötigt, zu sehen ist. Jeder von ihnen hat ein Präsent für Lidia Iwanowna bereit: Wandteppiche, Ziegen, Fernseher, tschechische Kristalllüster, französische Parfums, Tausende von Weißmeerkanal- und Flötchen-Packungen, Einweisungsscheine für Kurortaufenthalte in Jalta und in Stavropol, Eingemachtes, Hermelinpelze, jugoslawische Massagegeräte, Zement, russische Winterschapkas, Beluga-Kaviar, handgefertigte Zahnprothesen aus russischem Rotgold, 20-Liter-Bottiche mit ukrainischen grünen Salztomaten, Lada-Zylinderkopfdichtungen, Gas, weißrussische Kreissägen, Ikonen, importierte Antibiotika, Heizkohle, Alkohol in jeder erdenklichen Form und Menge, Doktorenwurst, und erst kürzlich sind Lidia Iwanowna zwei 9-mm-Makarows aus den transnistrischen Beständen der 14.   Armee in Tiraspol von ihrer treuen Klientel entgegengebracht worden. Und wenn manchmal Bürger zu ihr kommen, die nichts entbehren können, so behandelt Lidia Iwanowna sie mit der gleichen Hingabe wie ihre übrigen Klienten, denn die Zeiten sind schwer und die Probleme des Moldawiers zahlreich.
    Zuckerfabrikdirektor Hlebnik legt das Päckchen mit seiner Gabe neben die drei roten Telefone des Mediums, und zwar neben den Apparat mit der Aufschrift »Express-Leitung«, auf den Tisch. Der Apparatschik weiß, dass das Medium die chinesische Lebenswurzel Ginseng mag und sich über das Präsent freuen wird.
    »Wann?«, flüstert er kaum vernehmbar.
    »Morgen Mittag. Jelzin ist auf dem Weg. Und Kutschma auch«, antwortet Lidia Iwanowna mit einem Hauch von Unbehagen darüber, wie leicht es für
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