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Zuckerleben: Roman (German Edition)

Zuckerleben: Roman (German Edition)

Titel: Zuckerleben: Roman (German Edition)
Autoren: Pyotr Magnus Nedov
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zusammen. Und plötzlich ging’s jedem nur ums nackte Überleben. Um sonst nichts. Alles andere ist mit einem Schlag unwichtig geworden. Und wenn das eigene Überleben auf dem Spiel steht, dann ist der Mensch zu sehr vielem fähig … er ist bereit, Dinge zu tun, die er unter anderen Umständen nie getan hätte … verstehst du mich?«
    »Na und? Was hat das mit der jetzigen Krise zu tun? Oder der Zuckerfabrik von …«
    »Das jetzt ist keine wirkliche Krise, Junge«, unterbricht Tolyan Andreewitsch, »1991, bei uns, das war eine wirkliche Krise. Eine hässliche Krise. Ohne Regeln und mit ungewissem Ausgang. Das ist jetzt genau zwanzig Jahre her.«
    Plötzlich hält der Moldawier inne und starrt in die Ferne, als wollte er dort einen Geist vertreiben.
    »Ich habe manchmal das Gefühl, dass bestimmte Ereignisse in Zyklen wiederkommen. Sie kommen immer und immer wieder …« Der Moldawier macht dabei eine kreisende Bewegung mit der Hand. Dann beugt er sich näher zu dem Jungen und flüstert, so als würde er dem jungen Italiener ein wohlgehütetes Geheimnis verraten:
    »Und wenn du ein solches Ereignis bereits kennst, dann kannst du beim nächsten Zyklus die ersten Anzeichen eines ähnlichen Ereignisses in der Regel deuten. Verstehst du?«
    Angelo schweigt.
    »Verstehst du mich, mi capisci? «
    Tolyan Andreewitsch zündet sich eine moldawische Parliament an und pustet den Rauch an Angelo vorbei.
    »Da ist etwas über das Älterwerden, was ich festgestellt habe. Es ist beinahe wie ein biologischer Wechsel in deiner Beziehung zur Welt: Wenn du fünfzehn, sechzehn oder siebzehn bist, da wächst du noch, und egal was passiert, egal wie beschissen die Lage ist, in der du dich befindest, du bist immer stärker als das Leben. Und dann, eines Tages, wachst du auf … und das Leben ist auf einmal stärker als du. Und wenn dieser Tag in Moldawien kommt, dann solltest du besser darauf vorbereitet sein. Denn du kannst tief fallen.«
    Der Moldawier nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette, hält den Atem beängstigend lange an, exhaliert den Rauch, als würde er ein magisches Reinigungsritual vollziehen, und sagt:
    »Es gab damals zwei Leute, die eines Tages aufwachten und plötzlich feststellen mussten, dass das Leben stärker war als sie. Der eine hieß Pitirim Tutunaru, und der andere war der Held der sozialistischen Arbeit Wladimir Pawlowitsch, genannt ›Ilytsch‹. Und, wie es der Zufall so wollte, hatten beide in großem Maße etwas mit einer Zuckerfabrik zu tun.«

40 TONNEN ZUCKER
    1991. DONDUȘENI, MOLDAWISCHE SSR
    WENN DER MENSCH VON DEN UMSTÄNDEN GEBILDET WIRD, SO MUSS MAN DIE UMSTÄNDE MENSCHLICH BILDEN.
    KARL MARX UND FRIEDRICH ENGELS, DIE HEILIGE FAMILIE, 1844
    Wladimir Pawlowitsch, genannt »Ilytsch« und Pitirim Tutunaru
    Der 65-jährige Zuckerfabrikarbeiter Wladimir Pawlowitsch Pușcaș, der seinerzeit dank seiner optischen Ähnlichkeit mit Parteiführer Uljanow mit dem liebevollen Spitznamen »Ilytsch« versehen wurde, betrachtet sein Spiegelbild nicht ohne Genugtuung.
    Dort sieht er einen attraktiven Mann Ende vierzig in elegantem, aus einem polnischen Nomenklaturaladen importierten Nadelstreifanzug, der mit seiner dunklen Hornbrille mindestens genauso geheimnisvoll wirkt wie ein NKWD -General. Ilytsch entnimmt seiner Brusttasche einen kleinen Kamm, perfektioniert seine Frisur und montiert dann voller Sorgfalt und mit akribischer Genauigkeit den auf Hochglanz polierten Orden des Helden der sozialistischen Arbeit auf seinem Revers. Ja, es ist so weit. Der Tag der Tage ist gekommen.
    Feierlich schreitet er auf dem wegen des akuten Benzindefizits leeren Lenin-Boulevard Richtung Zuckerfabrik, wo Ilytsch mehr als fünfundvierzig Jahre heldenhaft gearbeitet hat. Ilytsch sieht sich vor seinem ganzen Kollektiv eine Rede über die gemeinsamen Jahre in der Zuckerfabrik halten, über die großen Erfolge und die schwierigen Phasen in der Zuckerproduktion, die guten und die schlechten Zeiten, die sie stets im festen Glauben an eine bessere, sozialistische Zukunft, zusammengeschweißt Seite an Seite einherschreiten ließ. Anschließend würde Ilytsch Direktor Hlebnik für sein Vertrauen danken und ihm persönlich sowie auch dem Zuckerfabrikkollektiv in musikalischer Begleitung der Hymne der Sowjetunion alles Gute für die Zukunft wünschen und sein Pensionierungsgeschenk unter feierlichem Applaus und allgemeinen Glückwünschen entgegennehmen. Im Hintergrund würde eine Abteilung Pioniere mit Nelken-Sträußen in der
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