Zigeuner
getrunken hatten und nicht über Banalitäten stritten, von geradezu rührender Anhänglichkeit. Jeder Besuch war für sie ein kostbarer Beleg, nicht vollends vergessen zu sein. Gefühlte hundert Mal am Tag wünschte mir der herzensgute Paul Lopa »Glück, Gesundheit, Zufriedenheit und ein langes Leben«. Der Sachse Alfred Lutsch, sentimental von billigem Branntwein, zog mich immer heimlich zur Seite, damit seine ebenfalls trinkende Frau nicht mitbekam, wie er bettelte. »Mein Freund, ein Fläschchen nur, bitte, nur ein kleines Fläschchen. So hör doch, wie meine Seele fleht!« Unvergessen auch der Zigan Corcy. Aus den Kleidersäcken der Caritas fischte er sich jene Stücke heraus, die definitiv overstyled waren. In weißer Hose und feinem Zwirn stolzierte er wie ein Pfau durchs Dorf und erklärte, er könne fortan nicht mehr arbeiten, da ein Herr von Welt sich nicht beschmutze. Womit sich seine Lebensführung allerdings nicht grundlegend änderte.
Am anhänglichsten, geradezu treu waren die Kinder der Gabor-Familie. Allen voran Eva und Buba, meine ständigen Begleiter, die sich fortwährend mit ihren Geschwistern stritten, wer meine Fototasche tragen durfte. Der Streit entsprang nichts anderem als einer tiefen Sehnsucht nach Anerkennung. Die Kinder schlugen und kratzten sich, weil sie nicht auf die Erfahrung verzichten wollten, eine Aufgabe zu haben. Sie wollten etwas tun, was einem anderen Menschen nützte und ihnen selbst Wert und Bedeutung verlieh.
Ihr Vater Baranca, von allen Gorbi gerufen, lebte mit Clara zusammen. Gorbi war Mitte dreißig und stammte aus der Gegend von Tirgu Mures, dem sächsischen Neumarkt. In kommunistischer Zeit hatte er in der Kolchose in Apold das Vieh gehütet. Nach dem Zusammenbruch des heruntergewirtschafteten Staatsbetriebs, der alle Quoten immer nur auf dem Papier erfüllte, verlor er seine Arbeit und zog mit Clara und seiner Familie nach Wolkendorf in ein aufgegebenes Sachsenhaus. Wie unter rumänischen Zigeunern üblich benötigten Clara und Gorbi für ihr Zusammenleben als Mann und Frau keine behördlichen Papiere und auch keine Heiratsurkunde. Doch halt! Vorsicht mit Pauschalisierungen!
Da jede Aussage über die Roma widerlegt und auch die Widerlegung mit dem Beweis ihres Gegenteils belegt werden kann, sei an dieser Stelle um der Korrektheit der Berichterstattung willen eingeschoben, dass 2007 unter den Zigeunern Rumäniens ein Ansturm auf die Standesämter einsetzte. Das lag nicht daran, dass die Tzigani plötzlich den Wert von beglaubigten Papieren mit Siegelstempel zu schätzen gelernt hätten, sondern weil der rumänische Staat im Jahr des Beitritts zur Europäischen Union frisch vermählten Paaren eine Starthilfe mit auf den Weg gab. Zweihundert Euro, bar auf die Hand. Der deutschsprachige rumänische Journalist Franz Remmel, der kenntnisreichste Roma-Experte Rumäniens, meldete daraufhin, der finanzielle Anreiz habe die Roma »vom Urgroßvater bis zum Urenkel« veranlasst, auch standesamtlich und nicht nur beim Bulibaschen zu heiraten. Remmel berichtete, dass sich an einem Tag allein in Cuirea 32, in Ramnicele 21 und in Lungani 43 Paare, mit weiteren 120 auf der Warteliste, trauen ließen. Es sollen, so erzählten rumänischen Freunde später, tagelange rauschende Hochzeits-Partys gefeiert worden sein. Nur erzählten sie mir das leider zu spät, erst nachdem das kostspielige Gesetz wieder abgeschafft worden war.
Zurück nach Wolkendorf. Mit zweiunddreißig war Clara Gabor bereits neunfache Mutter. Sie und Gorbi hatten wirklich faszinierende Kinder, die meisten davon Töchter. Die schüchterne Mundra war mit fünfzehn die Älteste, gefolgt von ihrem Bruder Baranca junior, der freundlichen Eva und den bildhübschen Mädchen Clara, Theresa und Gisela sowie dem rotzfrechen Wuschelkopf Buba. Die schon erwähnte Luise, von der ihre Mutter schwärmte, ihre Wangen seien so prall gewesen wie bei einer Specksächsin, war in einem der letzten Winter gestorben. Nach ihr war Freddy geboren. Danach Mathei, benannt nach seinem Großvater. Nun war Clara erneut schwanger. Und es wurde allmählich eng in dem einstigen Sachsenhaus. Auf einer Fotografie drängen sich die jüngsten Mädchen mit ihren zerzausten Haaren zusammen wie kleine Wildkatzen. Sie hocken auf einer Holztreppe, die den nächsten Winter nicht überleben wird.
Eva war dreizehn und hatte, so gut sie vermochte, die Verantwortung für die Familie übernommen. Sie besorgte das Essen, kochte und kümmerte sich fürsorglich
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