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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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Wohnsilos zusammengepfercht wurden. Die Erlaubnis, ein Kleingewerbe auszuüben, wurde ihnen verweigert, der private Handel war verboten ebenso wie das für die saisonalen Landarbeiter überlebensnotwendige Nomadenwesen. Der Versuch, die Verwurzelung der Roma mit Gewalt zu erzwingen, perpetuierte nur das verhängnisvolle Wechselspiel aus Ausgrenzung und Verwahrlosung, aus Apathie und Abhängigkeit von staatlicher und karitativer Alimentierung. Dieser Teufelskreis hält bis heute an.

KAPITEL 2
    Träume und Traumata
    Freie Fahrt in Richtung Osten – Die Meister des Wartens – Zabit, der Galan – Wolkendorf: Wo die Schotterpiste endet – Die Gabors: Clara, Gorbi und neun Kinder – Wenn der Deutsche kommt, wird alles gut – Ein Weiler wacht auf – Das traurige Ende einer Idee, die allen Erfolg verdient gehabt hätte – Die Sehnsucht nach dem gerechten Patron
    Die Berliner Mauer fiel, der Eiserne Vorhang zerriss, und so plötzlich wie unerwartet stand das Tor Richtung Osten sperrangelweit offen. Wege taten sich auf, in ein Paradies, in ein Eldorado für fixe Typen, die irgendwelche Joint ventures auskungelten, für Abschöpfer subventionierter Investitionsprogramme, für Gebrauchtwagenhändler und nicht zu vergessen, für Vertreter von Pornovideos und aufblasbarem erotischen Plastikgedöns. Natürlich fuhren auch ehrbare Geschäftsleute gen Osten. Und Journalisten. Wir packten den Kofferraum mit Dieselkanistern voll, setzten uns in unscheinbare Pkws, vorzugsweise in den soliden Golf II, und fuhren los. Mit Lenkradkralle, leeren Notizblöcken, Hunderterpacks Fuji-Color und voll brennender Neugier. Fluchend erduldeten wir die Autoschlangen an Grenzübergängen mit Namen, die sich kaum aussprechen ließen. Wir passierten Städte wie Hajdúszoboszló und Berettyóújfalu, wünschten den sturen Grenzbeamten in Hegyeshalom, Ártánd oder Nagylac die Pest an den Hals und zahlten dennoch die unverschämten Visa-Gebühren als Einlass-Ticket für Rumänien, Bulgarien und die Ukraine; exotische Länder, die kaum jemand aus dem Westen zuvor besucht hatte. Stunde um Stunde quälten wir uns durch unbeleuchtete Schattenwelten, bretterten am Rande des Achsenbruchs von Schlagloch zu Schlagloch, verschenkten Stangen von Marlboros an Polizisten, spendierten korrupten Staatsdienern grüne Dollar-Scheine und grüne Heineken-Bierdosen – und wurden am Ende überreich belohnt: mit Säcken voller Reportagen, prall gefüllt mit Geschichten über Menschen, von deren Existenz, geschweige denn deren Schicksalen ich bis dato keine Ahnung hatte.
    Die Völker Osteuropas hatten das Experiment des Kommunismus beendet und pfiffen auf die Signale zum letzten Gefecht. Die Weltherrschaft des Proletariats wurde auf unabsehbare Zeit vertagt, eine Ideologie im Übrigen, für die sich Zigeuner nie ereifern konnten. Der reale Sozialismus starb, nachdem er splitternackt dastand und seinen Wesenskern entblößt hatte. Der entpuppte sich als Warten. Warten auf irgendwas, das irgendwann vielleicht irgendwo geschieht. Die Warteschlange, so der Journalist Alexander Smoltczyk, war keine Begleiterscheinung, sondern »die nackte Wahrheit eines Systems«, das vor allem mit einem beschäftigt war: »der Vernichtung von Zeit, von Lebenszeit«. Im Grunde brach der ganze sozialistische Block zusammen, weil Menschen des Wartens überdrüssig waren.
    Die wahren Meister des Wartens sind die Zigeuner, vor allem die Roma auf dem Balkan. Rund 30 000 leben in dem Viertel Shutka am Rande der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Es können aber auch 40 000 sein. Oder 50 000. Niemand will das genau wissen. Jedes Mal, wenn ich dort war, oft in Zusammenarbeit mit der deutschen Caritas, schienen die Menschen dort zu warten, die Alten in ihren abgetragenen Mänteln ebenso wie die Jungen in ihren US -Jeans made in Turkey. Rund um eine Kreuzung im Zentrum hockten duldsame Schuhputzer hinter ihren Cremes und Bürsten, doch kaum jemand ließ sich das Schuhwerk polieren. Ein Dutzend Arbeiter stand im Herbst neben benzinbetriebenen Motorsägen, doch niemand wollte Bau- oder Feuerholz zuschneiden lassen. Kleinunternehmer saßen auf den Kutschböcken ihrer Pferdefuhrwerke, doch es gab nichts zu transportieren. Auch die Fahrer des Unternehmens Roma-Taxi harrten stundenlang der Kunden. Für mich sah es so aus, als erschöpfe sich in der wohl größten Roma-Siedlung in Europa der Sinn der alltäglichen Existenz im geduldigen Warten. Im Warten und im Träumen. Wie aus einer anderen Welt parkte
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