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Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Titel: Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
Autoren: Diana Gabaldon
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Eindruck, dass es in der Tat eine große Sauerei gewesen sein musste. Charles lag auf dem großen Esstisch, der mit einem Tuch und Kränzchen aus Grünzeug und Blumen verziert war. Eine grau gekleidete Frau saß neben dem Tisch und wand weitere Kränzchen aus einem Korb mit Blättern und Gräsern; sie sah auf, und ihr Blick wanderte von Antoinette zu Michael und wieder zurück.
    »Hinaus«, befahl Antoinette mit einer Handbewegung, und die Frau stand sofort auf und ging. Michael sah, dass sie dabei gewesen war, einen Kranz aus Lorbeerblättern zu flechten, und hatte die plötzliche, absurde Vorstellung, dass sie vorgehabt hatte, Charles damit zu krönen wie einen griechischen Helden.
    »Er hat sich die Kehle durchgeschnitten«, sagte Antoinette. »Der Feigling.« Sie sprach mit gespenstischer Ruhe, und Michael fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn der Schock, der sie umhüllte, nachzulassen begann.
    Er stieß einen respektvollen Kehllaut aus, berührte sie sacht am Arm und schritt an ihr vorbei, um seinen Freund zu betrachten.
    Tut es nicht . Das war es, so erzählte Joan, was die Stimmen zu ihr gesagt hatten. War es das, was sie gemeint hatten?
    Der Tote sah nicht friedlich aus. Seine Miene war von Linien der Anstrengung durchzogen, die sich noch nicht geglättet hatten, und er schien die Stirn zu runzeln. Die Bestatter hatten die Leiche gewaschen und sie in einen etwas abgetragenen dunkelblauen Anzug gekleidet; Michael dachte, dass es wahrscheinlich das einzige Kleidungsstück in Charles’ Besitz war, in dem man als Toter einigermaßen anständig auftreten konnte, und plötzlich fehlte ihm die Frivolität seines Freundes so sehr, dass ihm unerwartet die Tränen in die Augen stiegen.
    Tut es nicht . Er war nicht rechtzeitig gekommen. Wenn ich sofort gekommen wäre, als sie es mir erzählt hat – hätte ihn das aufgehalten?
    Er konnte das Blut riechen, ein rostiger, süßlicher Geruch, der die Frische der Blumen und Blätter durchdrang. Der Bestatter hatte Charles ein weißes Halstuch umgeschlungen – er hatte einen altmodischen Knoten benutzt, wie ihn Charles selbst nicht einen Moment getragen hätte. Doch die nun schwarz gefärbten Messerverletzungen waren darüber zu sehen, die Wunde ein krasser Kontrast auf der fahlen Haut des Mannes.
    Michaels Schock zumindest begann jetzt zu schwinden, und Schuld und Wut stachen hindurch wie Nadeln.
    »Feigling?«, sagte er leise. Er meinte es nicht als Frage, doch es schien höflicher, es so zu sagen. Antoinette prustete, und als er aufblickte, sah er sich mit ihrem direkten Blick konfrontiert. Nein, es lag kein Schock mehr darin.
    »Ihr habt es doch gewusst, oder?«, sagte sie, und so, wie sie es sagte, war das erst recht keine Frage. »Ihr wusstet von Eurer Schwägerin, der Schlampe, oder? Und von seinen anderen Geliebten?« Ihre Lippen krümmten sich fort von diesem Wort.
    »Ich … nein. Ich meine … Léonie hat es mir gestern erzählt. Deshalb wollte ich mit Charles sprechen.« Nun, er hätte Léonie gewiss erwähnt. Und Babette, von der er schon seit einiger Zeit wusste, würde er jetzt bestimmt nicht ansprechen. Doch, Himmel, was glaubte die Frau denn, was er dagegen hätte tun können?
    »Feigling«, sagte sie und blickte verächtlich auf Charles’ Leiche nieder. »Er hat alles – alles! – ruiniert, und dann konnte er nicht damit umgehen. Also läuft er davon und lässt mich allein, mit den Kindern, ohne einen Cent!«
    Tut es nicht .
    Michael blickte sie scharf an, um festzustellen, ob sie vielleicht übertrieb, doch das tat sie nicht. Sie brannte jetzt, jedoch vor Angst genauso wie vor Wut, und ihre frostige Ruhe war völlig verschwunden.
    »Das … Haus …«, begann er und wies mit einer vagen Geste auf das teure, modisch eingerichtete Zimmer. Er wusste, dass es das Haus ihrer Familie war; sie hatte es mit in die Ehe gebracht.
    Sie prustete.
    »Er hat es letzte Woche beim Kartenspiel verloren«, sagte sie bitter. »Wenn ich Glück habe, gestattet mir der neue Besitzer noch, ihn zu beerdigen, bevor wir gehen müssen.«
    »Ah.« Die Erwähnung von Kartenspielen brachte ihn mit einem Ruck wieder auf den Grund für seine Anwesenheit. »Ich frage mich, Madame, kennt Ihr einen Bekannten von Charles – den Grafen St. Germain?« Das war unfein, doch er hatte keine Zeit, sich eine elegante Herangehensweise zu überlegen.
    Antoinette blinzelte verblüfft.
    »Den Grafen? Warum interessiert Ihr Euch denn für ihn ?« Ihre Miene wurde scharf und aufmerksam.
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