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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden
Autoren: Joy Fielding
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gewesen , manchmal bis zu elf , und alle wurden sie verwöhnt und verhätschelt. Sie waren ja auch so viel leichter zu lieben als ein Kind , das Aufmerksamkeit forderte und auch noch dem Vater ähnlich sah , der die Familie im Stich gelassen hatte. Jake war zwar kein Einzelkind gewesen - er hatte einen älteren Bruder gehabt, der bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen war, und einen jüngeren , der einige Jahre vor Matties Erscheinen in die Drogenszene abgetaucht war –, aber Mattie wusste , dass seine Jugend so einsam und leidvoll gewesen war wie die ihre.
    Nein , schlimmer noch. Viel schlimmer.
    Warum hat er nie mit ihr darüber gesprochen?, fragte sie sich jetzt und hob unwillkürlich den Arm, als wollte sie sich melden, um die Frage jetzt zu stellen. Die Bewegung zog das Auge ihres Mannes auf sich und lenkte ihn von seinem Vortrag ab. Vielleicht hätte ich dir helfen können, sagte sie lautlos, als ihre Blicke sich trafen. Verblüffung, Ärger und Erschrecken flogen über sein Gesicht, alles im Bruchteil einer Sekunde, für niemanden erkennbar außer ihr. Ich kenne dich so gut, dachte sie, ohne das Kribbeln zu beachten, das aus der Tiefe ihres Halses aufstieg.
    Und ich kenne dich überhaupt nicht.
    Und du – du kennst mich ganz gewiss nicht.
    Das Kribbeln machte sich plötzlich in einer Explosion
    unkontrollierten Gelächters Luft. Sie lachte so laut, dass alle im Saal die Köpfe nach ihr drehten, so laut, dass die Richterin mit ihrem kleinen Hammer zornig auf den Tisch klopfte. Genau wie man es im Fernsehen
    immer sieht, dachte Mattie, die immer noch nicht aufhören konnte zu lachen, obwohl jetzt ein uniformierter Beamter sich ihr näherte. Sie gewahrte flüchtig den Ausdruck ungläubigen Entsetzens auf dem
    Gesicht ihres Mannes , dann sprang sie auf und drängte – ihr Mantel schleifte hinter ihr her über den Boden – aus der engen Sitzreihe hinaus.
    Als sie die große , von Marmor umrahmte Tür hinten im Gerichtssaal erreicht hatte , drehte sie sich noch einmal um und blickte einen Moment lang direkt in die erschrockenen Augen der rot gelockten Frau, die vor ihr gesessen hatte. Solche Locken habe ich mir immer gewünscht , schoss es Mattie durch den Kopf , als der Beamte sie schon eilig zur Tür hinaus schob. Wenn er etwas zu ihr sagte, so ging es in ihrem schallenden
    Gelächter unter, das sie die sieben Stockwerke hinunter , durch das Foyer , über die Vortreppe bis auf die Straße hinaus begleitete.
    3
    »Ruhe! Ruhe im Saal!«
    Die Richterin wippte in ihrem hochlehnigen Ledersessel auf und
    nieder , während sie mit ihrem Hammer immer wieder krachend auf den Tisch schlug. Aber die Zuschauer , für den Moment völlig außer Rand und Band, kümmerte das wenig. Einige tuschelten hinter vorgehaltener Hand, andere lachten ganz offen. Mehrere Geschworene unterhielten
    sich lebhaft miteinander. »Was um alles in der Welt... ?« »Was glauben Sie... ?« »Was hatte das denn zu bedeuten?«
    Jake Hart stand reglos, etwa auf halber Strecke zwischen seinem
    Mandanten und der Geschworenenbank, mitten in dem ehrwürdigen
    alten Gerichtssaal mit den hohen Fenstern und der dunklen
    Holztäfelung. Der Schock lahmte ihn, und die Wut umhüllte ihn wie ein schützender Kokon, während ihn Lärm und Tumult umbrandeten. Er
    hatte das Gefühl, wenn er jetzt nur einen Schritt machte, ja, wenn er nur Atem holte, würde er explodieren. Er musste sich unbedingt ganz still halten. Er musste erst wieder zu sich finden , seine Gedanken sammeln und dann verlorenen Boden wieder gutmachen.
    Was zum Teufel war da eben passiert?
    Es war doch bestens gelaufen, alles genau nach Plan. Wochenlang
    hatte er an diesem Schlussplädoyer herumgefeilt, nicht nur am Text, sondern auch an seiner Art des Vertrags, an der Modulation, der
    Akzentsetzung – welchen Worten er besonderen Nachdruck verleihen
    wollte und welchen nicht –, am Tempo und an der Spannung – wann er
    eine Pause machen und wann genau er fortfahren wollte. Es sollte der Vortrag seines Lebens werden, ein Schlussplädoyer, das den Aufsehen erregendsten Fall seiner Karriere krönen würde, diesen Fall, den er trotz schwer wiegender Vorbehalte der Seniorpartner der Sozietät
    übernommen hatte, trotz deren nachdrücklich geäußerter Überzeugung,
    dass es ein aussichtsloses Unterfangen sei und er nicht die geringste Chance habe, einen solchen Prozess zu gewinnen. Dieser Fall würde
    ihm, sollte er obsiegen, beinahe mit Sicherheit die Aufnahme in die Sozietät garantieren, ihn
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