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Wurzeln

Wurzeln

Titel: Wurzeln
Autoren: Alex Haley
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irgendeiner milchigen Flüssigkeit verabreichen mußte, nur damit ich in dieser Nacht schlafen konnte. Aber ich erinnere mich, daß viele Leute, schwarze und weiße, sich in einer unregelmäßigen Reihe entlang der staubigen Straße an unserem Haus sammelten, die Häupter gesenkt, die Frauen mit Kopftüchern, die Männer mit ihren Hüten in der Hand. Ja, es kam mir in den nächsten Tagen so vor, als sei jedermann in der ganzen Welt voll Trauer.
    Vater hatte zu dieser Zeit seine Diplomarbeit nahezu beendet. Er kehrte von Gorneil zurück nach Hause, um die Sägemühle zu übernehmen, während Mutter als Lehrerin in der örtlichen Schule begann. Ich selbst hatte Großvater innig geliebt, und da ich zugleich Großmutters tiefe Trauer sah, ergab es sich wie von selbst, daß wir uns eng aneinanderschlossen. Sie ging kaum irgendwohin, ohne mich mitzunehmen.
    Vermutlich, weil sie irgendwie die Lücke füllen wollte, die Großvaters Abwesenheit hinterließ, begann Großmutter, von nun an in jedem Frühjahr alle möglichen weiblichen Verwandten der Familie Murray aufzufordern, einige Zeit im Sommer, wenn nicht überhaupt den ganzen, mit uns zu verbringen. So kamen sie, meist im etwa gleichen Alter wie Großmutter, also Ende Vierzig, Anfang Fünfzig, und zwar aus für mich so exotisch klingenden Orten wie Dyersburg, Tennessee, Inkster, Michigan, aus St. Louis oder Kansas City – und sie trugen Namen wie Tante Plus, Tante Liz, Tante Viney und Cousine Georgia. Wenn das Geschirr nach dem Abendessen abgespült war, ging man hinaus auf die vordere Veranda und nahm Platz auf den bambusgeflochtenen Schaukelstühlen. Ich drängte mich zwischen sie, meist hockte ich hinter Großmutters weißlackiertem Schaukelstuhl, und hörte zu. Um diese Zeit dämmerte es bereits, zwischen den Geißblattranken funkelten Glühwürmchen, und wenn es nicht gerade besonders schönen lokalen Klatsch zu erörtern gab, drehte sich das Gespräch unweigerlich um den immer gleichen Gegenstand. Das, was ich da aufschnappte, konnte ich im Laufe der Zeit zusammensetzen wie einen Flickenteppich, und es ergab sich eine Art Epos, das durch Generationen weitergereicht worden war.
    Diese Erzählungen waren es auch, die den einzigen mir erinnerlichen offenen Streit zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter heraufbeschworen. Großmutter kehrte zu ihrem Lieblingsthema mitunter selbst dann zurück, wenn ihre Sommergäste gar nicht anwesend waren, und darüber konnte Mutter der Geduldsfaden reißen.
    »Oh, Mom, ich wünsche, daß du endlich mit diesen alten Geschichten aus der Sklavenzeit aufhörst, das ist ja nicht zum Aushalten.«
    Aber Großmutter fauchte genauso energisch zurück: »Dir mag es ja völlig gleichgültig sein, wer du bist und woher du kommst, aber mir ist das nicht egal.«
    Es passierte dann durchaus, daß sie einen ganzen Tag nicht mehr miteinander redeten, mitunter sogar noch länger.
    Aus dem, was ich von den Gesprächen dieser bejahrten Damen aufschnappte, bekam ich den Eindruck, daß alles, wovon da die Rede ging, vor unendlich langer Zeit passiert sein müsse. Deutete eine mit dem Zeigefinger auf mich und sagte: »Damals war ich gerade erst so alt wie das Bürschchen da«, kam es mir unglaubhaft vor, daß jemand, der so alt und so verrunzelt war, je so klein gewesen sein sollte wie ich.
    Als kleiner Junge verstand ich sicher das meiste nicht, was sie sagten. Ich wußte zum Beispiel kaum, was ein »alter Masser« war oder eine »alte Missis«. Ich konnte mir unter dem Begriff »Pflanzung« wenig vorstellen, nur daß das Wort irgendwie mit einer Farm zu tun haben mußte. Doch langsam, da ich die Geschichten jeden Sommer von neuem hörte, begann ich, häufig wiederholte Namen wiederzuerkennen und mich an Ereignisse zu erinnern, die mit ihnen zusammenhingen. Die weitest entfernte Figur überhaupt war ein Mann, den sie den »Afrikaner« nannten. Und von ihm wußten sie, daß er in dieses Land mit dem Schiff gebracht worden war zu einem Ort, den sie »Naplis« aussprachen. Sie erzählten, er sei vom Schiff herunter von einem gewissen »Masser John Waller« gekauft worden, einem Farmer aus »Spotsylvania County, Virginia«. Da war die Rede davon, daß der Afrikaner zu fliehen versuchte und beim vierten Mal ausgerechnet von zwei weißen Sklavenjägern gefaßt wurde, die offensichtlich an ihm ein Exempel statuieren wollten. Der Afrikaner hatte die Wahl zwischen Kastriertwerden oder sich den Fußabhackenlassen, und – »Dank sei Jesus, sonst säßen wir
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