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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen?
Autoren: Alice Munro
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keinen Trost des Rituals und keinen Genuss der Zeremonie. Das Gebet war nicht etwa nur förmlich, sondern persönlich, ein qualvolles Ringen. Und ob die Seele hinreichend für das ewige Leben geläutert war, das stand immerzu in Frage, war immerzu bedroht.
    Thomas Boston sorgte dafür, dass dieses Drama ohne Unterlass weiterging, bei ihm selbst und bei seinen Gemeindemitgliedern. In seiner Autobiographie berichtet er von seinen immer wiederkehrenden Seelenqualen, seinen Phasen der Dürre, seinem Gefühl der Unwürdigkeit und Dumpfheit sogar, während er das Evangelium predigt oder in seinem Studierzimmer betet. Er fleht um Gnade. In seiner Verzweiflung bietet er dem Himmel die entblößte Brust dar – zumindest symbolisch. Er hätte sich bestimmt mit Dornenpeitschen gegeißelt, wenn solches Verhalten nicht papistisch wäre und mithin eine weitere Sünde darstellte.
    Manchmal erhört ihn Gott, manchmal nicht. Seine Sehnsucht nach Gott verlässt ihn nie, doch es gibt keine Gewähr, dass ihm je Befriedigung zuteil wird. Er steht auf, vom Heiligen Geist erfüllt, predigt stundenlang, er hält feierlich die Kommunion ab und weiß sich dabei das Gefäß Gottes und wird Zeuge der Wandlung vieler Seelen. Doch er achtet auch darauf, sich das alles nicht selbst zugutezuschreiben. Denn er weiß, wie anfällig er für die Sünde des Stolzes ist und wie rasch ihn der Zustand der Gnade verlassen kann.
    Er müht sich, stürzt hin. Tappt wieder im Dunkeln.
     
    Derweil ist das Dach des Pfarrhauses undicht, sind die Wände feucht, qualmt der Rauchfang, werden seine Frau, seine Kinder und er selbst oft von Fieberkrankheiten geschüttelt. Sie haben Halsentzündungen und rheumatische Schmerzen. Einige seiner Kinder sterben. Sein erstes Kind, eine Tochter, kommt mit etwas zur Welt, das sich für mich wie Spina bifida anhört, und stirbt bald nach der Geburt. Seine Frau ist zu Tode betrübt, und obwohl er sein Bestes tut, um sie zu trösten, fühlt er sich auch verpflichtet, sie zu rügen, weil sie sich über Gottes Willen beklagt. Später muss er sich selbst Vorwürfe machen, weil er den Sargdeckel hebt, um einen letzten Blick auf sein liebstes Kind zu werfen, einen kleinen Jungen von drei Jahren. Wie schändlich von ihm, wie schwach, dieses sündige Häufchen Fleisch zu lieben und die Weisheit des Herrn in Frage zu stellen, weil er es ihm genommen hat. Er erlegt sich weitere Kämpfe auf, weitere Selbstkasteiung und lange Gebete.
    Kämpfe nicht nur mit seiner seelischen Dumpfheit, sondern mit der Mehrheit seiner Amtskollegen, denn er beschäftigt sich immer eingehender mit einer Abhandlung namens
Das Mark der modernen Theologie
. Er wird beschuldigt, ein
Mark
-Mann zu sein, wird verdächtigt, sich auf die Seite des Antinomismus zu schlagen. Der Antinomismus beruft sich auf die Lehre von der Vorherbestimmung und stellt von da aus eine schlichte Frage – warum, wenn man von Anfang an zu den Auserwählten gehört, soll man dann nicht ungestraft tun und lassen können, was man will?
    Doch halt. Halt! Wer kann sich je sicher sein, zu den Auserwählten zu gehören?
    Und das Problem für Boston besteht bestimmt nicht darin, ungestraft mit allem davonzukommen, sondern darin, einer bestimmten Logik in aller Rechtschaffenheit Folge leisten zu müssen.
    Gerade noch rechtzeitig schwört er der Irrlehre ab. Kehrt um. Ist in Sicherheit.
    Seine Frau, inmitten all des Gebärens und zu Grabe Tragens und der Sorge für die verbliebenen Kinder und der Plackerei mit dem Dach und dem unaufhörlichen kalten Regen, wird von einem Nervenleiden heimgesucht. Sie vermag das Bett nicht mehr zu verlassen. Ihr Glaube ist stark, jedoch in einem Kernpunkt, wie er sich ausdrückt, morsch. Er verrät nicht, was dieser Kernpunkt ist. Er betet mit ihr. Wie er mit dem Haushalt zurechtkommt, wissen wir nicht. Seine Frau, einstmals die schöne Catherine Brown, scheint jahrelang das Bett zu hüten, bis auf eine rührende Unterbrechung, als die ganze Familie von einer Ansteckung aufs Krankenlager geworfen wird. Da steht sie auf und pflegt alle, unermüdlich und zärtlich, mit der Kraft und der Zuversicht, die sie in ihrer Jugend besaß, als Boston sich in sie verliebte. Alle erholen sich, doch sie ist danach wieder ans Bett gefesselt. Sie ist in vorgerücktem Alter, aber immer noch am Leben, als der Pfarrer stirbt, und wir können ihr nur wünschen, dass sie danach aufstehen und fortziehen wird, um in einer behaglicheren Stadt bei umgänglichen Verwandten in einem trockenen
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