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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition)
Autoren: Joanna Bator
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etliches ist da, das erst noch geschehen wird; da sind Róża, Aniela und Hawa, die drei Frauen, nach denen ihre Töchter benannt sind, und auch die Töchter selbst, mal als kleine Mädchen, mal als Erwachsene, lachend, mit schokoladenverschmierten Gesichtern. Grażynka denkt nicht tagtäglich über Früher und Später nach, denn dann müsste sie sich darüber klarwerden, wie alt sie ist – eine Tatsache, die sie zu einer der ältesten Mütter machen würde, die jemals in den weltweiten Annalen der Medizin verzeichnet waren. Ihr Leben ist ein immerwährendes Jetzt, sein Zentrum dieses hässliche wohlhabende Haus in einem deutschen Dorf, ihr Mann, der sich auf Schweinezucht versteht und manchmal nachts weint, ihr Sohn Daniel, der aussieht wie sein Vater, wie dieser ihn sich wahrhaftig gewünscht hat. Grażynka selbst hatte sich keins ihrer Kinder gewünscht, weil ihr nie etwas fehlte, nicht einmal damals, als sie außer einem ausgebuddelten Grammophon nichts besaß und Halina Chmura ihr in dem heruntergekommenen Wałbrzycher Mietshaus, in dem sie beide wohnten, Röcke aus rotgefärbtem Windelstoff nähte. Von dieser Stelle in dem herrenlosen Wald aus sieht Grażynka die Vergangenheit und die Zukunft, die wie nebelumhüllte Planeten um ihr deutsches Haus kreisen, aber dieses Zentrum des Universums ist zufällig und unbeständig.
    Außer Wałbrzych gibt es natürlich noch das Städtchen Kamieńsk, zwischen Kleszczowa und Gorzkowice, ein so kleiner Flecken auf der Landkarte Mittelpolens, dass nur diejenigen ihn bemerken, die es wirklich wollen und sich von den beiden nächstgelegenen und übrigens auch kleinen und wenig hübschen Städten – Radomsko und Piotrków Trybunalski – nicht ablenken lassen. Kamieńsk liegt in einer sandigen, unfruchtbaren Tiefebene, und die Kinder kommen hier mit der Fähigkeit auf die Welt, Steine von den Feldern zu sammeln, die mit jedem Jahr mehr Steine hervorbringen, als stoße die Erde die harten Früchte ihrer Innereien aus. Gut gedeihen hier Kiefern, Birken und Heidekraut, und die Menschen der Gegend sind kleinwüchsig, trocken und erdig, ihre Körper haben die Farbe von Kartoffelschalen. Wenn der Krieg oder eine Laune des Schicksals sie irgendwo in die Ferne verschlägt, schauen sie sich um, aber so, als wollten sie mit dem Blick nur das erfassen, was in greifbarer Nähe liegt. Sie beginnen zu schneidern, flicken, kleben, polstern, zu räuchern und zu säuern, um sich bald schon wo auch immer, sei es auf einem Sandberg, in irgendeinem Greenpoint oder Hammersmith, zu Hause zu fühlen. An einen anderen Ort verpflanzt, ändern sie sich nicht sehr, und wenn sie sich ändern, verkümmern sie und sterben sie aus; was ist aus uns geworden!, sagen sie, sie haben uns ins Abseits gedrängt, klagen sie, aber wir werden wieder aufstehen, drohen sie, wenn das Schicksal sie so zu Boden drückt, dass sie kaum noch Luft bekommen. An denen, die anders sind als sie, stutzen sie so lange herum, bis sie zurechtgestutzt und ihnen ähnlich sind, und dann denken sie sich für sie einen heimeligen Namen aus, diese beiden, das sind die Teetanten, sagen sie zum Beispiel, und sogleich geht es ihnen besser, denn nichts ist so schlimm für sie wie etwas Unbenanntes. Als der Krieg die jüdischen Schneider, Tischler, Wasserträger, Krämer und Fotografen, die Schmiede und Bäcker hinwegfegt, nehmen sie ohne jedes Bedauern ihren Platz in den Häuschen an den kopfsteingepflasterten Straßen von Kamieńsk ein. Nur manchmal seufzt Marianna Gwóźdź: Ach, wie diese Jüdinnen diese Süßspeise hingekriegt haben mit Rosinen und Möhren, Zimmes oder so hieß es, da aß man und aß und konnte nicht aufhören, aber selbst kriege ich das irgendwie nie hin. Da hätte man mal besser nach dem Rezept gefragt, bevor sie alle auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind. Und wenn man Marianna Gwóźdź triezen wollte, würde man ihr ein weiteres Gläschen Marillenlikör einschenken, sie würde trinken, mit zurückgelegtem Kopf den letzten Rest auslecken, und dabei würde ihr vielleicht einfallen, dass die Juden so was an den Türen hängen hatten, so kleine Dosen aus Holz zum Beten, die guckte sie sich an, wenn sonntags die Apothekerfrau nach ihr rief, dass sie ihnen das Feuer anmachte. Marianka, Marianka!, rief sie nach ihr, aber wie hießen bloß diese kleinen Schachteln an den Türen? Marianna Gwóźdź, eine der ältesten Einwohnerinnen von Kamieńsk, träumt manchmal, dass alles im Ort wieder so ist wie vor dem Krieg, aber
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