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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition)
Autoren: Joanna Bator
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Alter, in dem seine Altersgenossen Polizisten, Banditen oder Feuerwehrmänner werden wollten, erklärte er, dass er Schweinezüchter werden wollte wie sein Vater. Voller Ernst sagte er immer wieder, dass er in Mehrholtz bleiben und Tiere züchten würde, und das Merkwürdigste daran ist, dass er sein Wort gehalten hat.
    Als die Töchter ausgezogen waren, hatte Grażynka keine Lust, ihre abendlichen Spaziergänge in den Wald aufzugeben. Hans fragte längst nicht mehr, warum sie dort hinging, die Hauptsache war ja, dass sie genauso zurückkam, wie sie hingegangen war, oder sogar noch schöner, mit tauglänzendem Haar und Augen so dunkel, als wäre die Dunkelheit des Abends hineingeströmt. Manchmal leistete ihr einer der Streunerhunde oder eine zugelaufene Katze Gesellschaft, manchmal kam sie mit einem Zweig mit Vogelbeeren oder einem Kräuterstrauß zurück. Jedem, der sie dann sah, sogar Frau Korn und Frau Zorn hinter ihren jeweiligen Gardinen, fielen dann plötzlich ganz unalltägliche Worte ein, wie Meereswogen, Abgrund, Sirenen, Verwirrung, oder Bilder aus einem Buch oder der Schulausflug ins Museum, wo an den Wänden Bilder von Frauen mit perlmuttfarbener Haut hingen, die sich – solche schamlosen Ferkel! – in Waldseen badeten oder splitternackt auf der Wiese frühstückten. Immer wenn Grażynkas Spazierzeit heranrückte, überfiel Hans eine Unruhe. Seine Frau kehrte zwar stets an den häuslichen Herd zurück, doch spürte er, dass ihre Ausflüge etwas waren, was mit ihm, mit ihrem vollgestopften Haus, mit ihrem gemeinsamen Leben nichts zu tun hatte. An diesen Abenden verdichtete sich die Luft, als erfüllte ein Nebel ihr Haus, der die Umrisse der Einrichtungsgegenstände verschwimmen ließ und sich in den Ecken sammelte. So schaut Hans Kalthöffer zu, wie Grażynka die Gummistiefel überzieht, sich den Schal um den Hals wickelt, sich in der Tür zu ihm umdreht. Dann winkt er ihr mit der Hand und macht ein ulkiges Gesicht – ist doch nichts dabei, sie geht doch nur spazieren, und sie erwidert mit einem Lächeln, das dies weder bestätigt noch verneint. Dann spürt Hans Kalthöffer, der Schweinezüchter aus einem Dorf bei München, dass die Frau, in die er sich im Tanzsaal von Szczawno Zdrój verliebt hat, die Mutter seines Sohnes, in diesen Augenblicken noch weniger zu ihm gehört als sonst. Was mein ist, ist auch dein, hatte er Grażynka immer wieder gesagt, seit sie zusammen waren. Anfangs, als sie noch kein Deutsch konnte, hatte er einfach ihre Hand auf die einzelnen Dinge gelegt, an das Haus, den Wind, die dünne Linie des Horizonts, seine rosige, blond behaarte Brust. Sie hatte ihrem deutschen Mann nie mit einer ähnlichen Geste geantwortet, aber sie hatte ihn auch nie belogen. Hans blickt Grażynka nach, bis sie im dunklen Wald verschwunden ist, dann bleibt er am Fenster stehen und wartet. Erst wenn er sieht, dass sie zurückkommt, atmet er erleichtert auf und setzt sich aufs Sofa, schaltet den Fernseher ein und tut so, als hätte er in aller Ruhe ein Fußballspiel oder eine landwirtschaftliche Sendung gesehen.
    Grażynka geht zuerst an ihrem Schweinestall vorbei, dann geht sie durch ihre Felder den Hügel hinauf und tritt in den Wald, der niemandem gehört; unabhängig von der Tageszeit herrscht hier immer Dämmerung, weder Stimmen noch Licht dringen zwischen die Bäume, die so dicht wachsen, als wollten sie ein Geheimnis hüten. Grażynka geht voran, stößt immer wieder an Baumstämme – auch wenn sie kerngesund ist, sie sieht schlecht, was sie persönlich nie gestört hat. Ihr gepunkteter Schal weht im Wind, und aus dem Fenster sieht Hans einen roten Schimmer zwischen den Bäumen, der sofort wieder verschwindet wie eine erloschene Flamme. Auf dem Gipfel des Hügels angekommen, setzt sich Grażynka mitten in dem herrenlosen Wald auf einen Stein, der so glatt ist, als hätte das Meer ihn ausgestoßen, und blickt auf ihr Haus, das aus dieser Entfernung aussieht wie ein Puppenhaus, ein dunkles Quadrat mit erleuchteten Fensterausschnitten darin. Der Wald ringsum rauscht wie Wellen, die Luft ist rein und belebend; Grażynka sieht von hier aus ihr Leben, und das ist der einzige Ort, wo Vergangenheit für sie eine Bedeutung hat, und auch jetzt ist sie keine Reihe aufeinanderfolgender Ereignisse, sondern ein Kaleidoskop, in dem sich bei jedem Blick hinein ein anderes Muster zeigt. Da sind Dinge, die geschehen sind und die es nicht mehr gibt, und solche, die nie geschehen sind und die es noch gibt,
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