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Wolke 8...

Wolke 8...

Titel: Wolke 8...
Autoren: Monika Kunze
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die sich etwa hundert Meter entfernt niedergelassen hatten, waren mit sich selbst beschäftigt. Ihr leises Stimmengemurmel klang friedlich, manchmal wurde es von einem hellen Kinderlachen unterbrochen.
    Anne mochte es, wenn Kinder so wie diese lachten. Dann spürte sie, dass deren Welt noch in Ordnung war.
    Sie hatte sich ein Plätzchen weit hinten bei einer kleinen Gruppe von Zwergkiefern gesucht, wo sie schon seit Stunden halb lag, halb saß.
    Niemand achtete auf sie. Das konnte Anne nur recht sein, denn sie hatte die Zeiten, als sie alle Blicke auf sich zog, schon lange hinter sich gelassen. Sie war nicht mehr das junge ranke und schlanke Mädchen, das sich eng an ihren französischen Brieffreund schmiegte. Diese glückliche und viel zu kurze Zeit lag Jahre, nein, Jahrzehnte, zurück. Das war unschwer zu erkennen: an den Pölsterchen, die inzwischen zu ihrem Körper gehörten und mit denen sie sich längst angefreundet hatte, an den Fältchen um die Augen oder an ihrem Haar, das zwar noch immer haselnussbraun leuchtete, aber schon lange nicht mehr so voll war wie in ihrer Jugend.
    Aber waren das nicht alles Nebensächlichkeiten? Das wichtigste Erkennungsmerkmal für die lange Zeit, die seit damals vergangen war, trug die Landschaft selbst. Wie hatte sie sich doch verändert!
    Als sie sich mit Jean vor langer Zeit an diesem Ort getroffen hatte, gab es hier nur ein riesiges Loch, aus dem die Lausitzer Braunkohle gekratzt wurde. Wer hätte es denn damals auch glauben sollen, dass es hier jemals einen See geben könnte? Sie, die junge Frau aus der DDR und er, der junge Mann aus Marseille , jedenfalls nicht.
    In all den Jahren war sie nur ein einziges Mal hier gewesen. Das musste in der Zeit gewesen sein, als man gerade begonnen hatte, den See zu fluten.
    Staunend und auch ein bisschen erwartungsvoll hatte sie ganz allein an dem noch nicht einmal richtig verfestigten Ufer (dessen Betreten eigentlich verboten war) gestanden wie einst mit Jean am Tagebaurand. Sie hatte sich umgeschaut und tief in sich hinein gelauscht. Aber nichts hatte sich in ihrem Inneren geregt. So jedenfalls hatte sie es sich selbst eingeredet. Heute wusste sie, dass sie sich damals etwas vorgemacht hatte. Aber diese uralte Sehnsucht schien ihr zu nichts nütze zu sein, sie würde sie nur wieder durcheinanderbringen. Ob Freunde, die Familie, Lehrer und spätere Kollegen: alle hatten ihr suggeriert, dass ihr tiefes Gefühl nur die unsinnige Schwärmerei eines jungen Mädchens sei. Bis sie irgendwann selbst davon überzeugt gewesen war.
    Nach dieser Einsicht wollte sie sich keine Schwäche mehr erlauben, denn seit jenem Tag befürchtete sie nicht mehr, dass sie vergeblich warten würde. Sie wusste es - oder glaubte es wenigstens zu wissen.
    So war sie damals nach Hause gegangen und hatte sich unter der heißen Dusche ihren tiefen Schmerz, ihre Hoffnung und wohl auch ihre Sehnsucht endgültig abgespült.
    Danach hatte es Anne nicht mehr über sich gebracht, zum See fahren.
    Natürlich hatte sie aus den Medien und aus Erzählungen ihrer Freunde und Arbeitskollegen erfahren, dass der See, der nun die einstigen Mondlandschaft ersetzte, von Jahr zu Jahr schöner geworden war.
    Aber dass er eines Tages so schön werden würde wie er sich ihr jetzt zeigte, das hätte sie niemals für möglich gehalten. Sie nicht und die meisten Menschen, die sie kannte, wohl auch nicht.
    Und Jean? Wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn sie einander mehr vertraut hätten?
     
    Anne musste schlucken. Mit Wucht drängte eine Frage aus ihrem tiefsten Inneren an die Oberfläche: Wie hatte sie es zulassen können, dass die schmerzlichen Erinnerungen sie von diesem so traumhaften Platz ferngehalten haben? All die Jahre!
    Kühles Wasser umspülte ihre Füße. Leichtes Plätschern drang an ihr Ohr und dann plötzlich schnatterte laut ein Vogel. War es ein Erpel, der von irgendwo her nach seiner Liebsten rief?
    Wie sehr wünschte sie sich jetzt, dass Jean angeschwommen käme, prustend aus dem Wasser stiege und sich schüttelte. Wie gern hätte sie sich in seine Arme geworfen.
    Doch heute musste sie sich noch gedulden. Wer weiß, was der morgige Tag bringen würde?
    Doch warum sollte sich um die Zukunft Sorgen machen? Das hatte sie sich doch schon vor Jahren abgewöhnt, weil sie gemerkt hatte, dass es sich im Jetzt und Hier unbeschwerter leben ließ.
    Mit geschlossenen Augen genoss sie die Wärme des ausklingenden Sommertages. Alle Geräusche, ganz gleich ob sie von den Booten,
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