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Wolfswechsel - Aktionspreis für begrenzte Zeit (German Edition)

Wolfswechsel - Aktionspreis für begrenzte Zeit (German Edition)

Titel: Wolfswechsel - Aktionspreis für begrenzte Zeit (German Edition)
Autoren: David Gray
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und ihn, nachdem er Schlips, Schnürsenkel,  und Mantel losgeworden war, sogar gezwungen seine Fingerabdrücke mit schwarzer klebriger Tinte auf ein Formular zu stempeln.
      Er hatte sie auf seinen polnischen Pass hingewiesen. Dann nach einem Anwalt verlangt, doch der Flic hinter dem schäbigen Schreibtisch lachte ihn bloß aus, vollführte eine obszöne Geste und sorgte anschließend dafür, dass ihn seine Kollegen in Handschellen wieder zu den anderen Festgenommenen dieser Nacht in den Verwahrkäfig nach nebenan zurückbrachten.
      Zwanzig Fremde, Frauen und Männer, Huren und Freier bunt gemischt, hockten dort wie Hühner auf der Stange nebeneinander auf einer harten schmalen Bank und warteten auf ihre Vernehmung. Ein  kleiner schmächtiger Franzose mit einem Glasauge murmelte beständig tonlos irgendetwas in sich hinein. Sein Nachbar, ein älterer Araber ließ von allem entrückt unablässig eine Gebetsschnur durch die Finger gleiten. Ein paar der Mädchen tuschelten miteinander. Eine  begann glucksend zu lachen. 
      Wajda hätte in jenem Augenblick auch in einer der drei anderen Sprachen, die er beherrschte fluchen können. Doch irgendetwas in ihm, das schneller war als Gründe,  brachte ihn dazu es deutsch zu tun. 
     „ Scheiße!“
    Der Kopf des schmächtigen Franzosen fuhr herum. Sein arabischer Nachbar blickte nicht einmal auf. Zwei der Mädchen warfen Wajda aus den Augenwinkeln heraus heimliche Blicke zu.
      Natalie jedoch lachte.
    „ Stimmt – Scheiße!“, entgegnete sie.
    Vielleicht, meinte Wajda, war es gar kein so großes Missgeschick in diesem Drahtkäfig eingeschlossen  zu sein.  Vielleicht war es ganz im Gegenteil nur der allerletzte Anstoß,  den es gebraucht hatte, um zu einer endgültigen Entscheidung über das bisschen Zukunft zu kommen, das er noch vor sich hatte.
     
    * * *
     
    Keiner besitzt je irgendetwas wirklich. Mit einer Ausnahme: seiner Geschichte. Doch selbst die wird erst dann wirklich zu SEINER Geschichte, nachdem sie wenigstens einmal erzählt wurde. Erst im Erzählen scheidet sich Dunkles von Hellem, verwischen die Grenzen, wird Gut zu Böse und Böse zu Gut. Und  lernt man das eine vom anderen auf ganz eigene, intime Art  zu unterscheiden. 
    Keiner, und Wajda selbst zu allerletzt, hätte sicher sagen können, ob Natalies Entgegnung auf seinen Fluch der Auslöser dafür wurde, dass er ihr wenig später seine Geschichte zu erzählen begann. Geschichten, gleich welcher Art, haben  ihre verborgenen Eigenheiten. Die Eigenheit in Wajdas Geschichte lag darin, dass sie nur in einer einzigen Sprache erzählt werden konnte. Deutsch war nicht Wajdas Muttersprache, und wahrscheinlich noch nicht einmal die, welche er am sichersten beherrschte, aber deutsch war die Sprache in der er noch heute träumte. Deutsch war die Sprache, in der er das einzige Credo formuliert hatte, das es ihm je wert erschienen war Credo genannt zu werden: Trotzdem.
    Hic sunt dracones –von hier ab nur noch Drachen- schrieben antike Kartographen  unter jene Linie, die für sie die Grenze zwischen Bekanntem und Unbekanntem markierte. Zwischen jener Form der Hölle,  die sie zu kennen glaubten und jener anderen, wesentlich beunruhigenderen, die ihnen unbekannt war.

I.
     
     
    „ Wer die Hölle übersteht, lässt sich auch vom Paradies nicht unterkriegen.“
     
    Pavel Kohout, 1978 „Die Henkerin“
     
     
    Glaub ihnen nicht, wenn sie behaupten, einer trüge je des Anderen Last. Es gibt keinen Trost angesichts der Erinnerung. Und Reue erst recht nicht sondern höchstens Bilder.
    Du bist jung. Du kannst es höchstens ahnen, nicht verstehen. Aber das ist vielleicht auch nicht wichtig. Wichtig ist nur zu erzählen, weil erst durch die Worte, in die man sie bannt, Wahrheit wahr werden kann.
      In Lettland und Petersburg war ich Orthodoxer. Jedenfalls steht das so in meiner Geburtsurkunde. Später in Berlin war ich eines Tages plötzlich ein Jude. Heute in Warschau halten sie mich wahrscheinlich für einen genauso passablen Kommunisten wie heimlichen Katholik.  Und das ist nicht mal ein Widerspruch - so groß ist der Unterschied nicht. 
      Ich habe Pässe nie gemocht. Ich war immer sicher, dass Namen keine Rolle spielen. Im wilden Herz der Welt klingelt keine Registrierkasse. Auch wenn in meinem Pass Wladislaus Wajda, Pole, geschrieben steht, muss ich doch  nur für einen Moment die Augen schließen und bin wieder Dimitri Bronstein, der Lette, der seine Jugend barfuss im Sand verbrachte.
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