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Wolfsinstinkt

Wolfsinstinkt

Titel: Wolfsinstinkt
Autoren: L Seidel
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aus dem Wald.
    Hastig stellte er die Tasse beiseite und drückte sich fast die Nase am Fenster platt. Allerdings war es nicht sein Vierbeiner, der da aus dem Wald auf sein Haus zu kam; es war ein Mensch. Ein Mann, mit gesenktem Kopf und wehendem Haar. Offensichtlich trug er einen Mantel aus Tierfellen und für eine Sekunde dachte Ricky, dass es ein Wunder war, dass er ihn nicht mit einem Bären verwechselt hatte.
    Die Enttäuschung darüber, dass es nicht der Hund war, blieb aus, denn in dem Moment, als sich Ricky von der Scheibe löste und sich abwenden wollte, hob der Mann den Kopf und wandte ihn in seine Richtung. In Ricky machte sich ein unheimliches und gleichzeitig vertrautes Gefühl breit.
    Sein Herz schlug in einem schnellen, harten Rhythmus, als er zur Tür stolperte und sie aufriss, um seinen Besucher einzulassen. Als der Mann direkt vor ihm stand, musterte Ricky ihn neugierig. Das Licht, das auf die Veranda fiel, reichte aus, um sämtliche Einzelheiten zu erkennen. Das lange wirre Haar hatte die satte, goldene Farbe frischen Honigs, ein kleines Lächeln entblößte zwei Reihen perfekt weißer Zähne. Das Gesicht war freundlich und der Blick der braunen Augen klug.
    „Guten Abend“, begrüßte Ricky ihn und fühlte dabei eine seltsame Schüchternheit in sich aufsteigen. Himmel, wie groß war dieser Kerl? Er überragte ihn um einen ganzen Kopf, und das, obwohl Ricky selbst einen Meter achtzig groß war.
    Er hatte ein europäisches Aussehen, leicht gebräunte Haut, trotz des Winters. Seine Bewegungen wirkten kraftvoll und waren unterschwellig elegant, als er sich den Schnee von den Stiefeln schlug.
    „Guten Abend“, erwiderte der Fremde mit einer Stimme, die Ricky einen heißen Schauer über den Rücken jagte. Tief und samtig, sodass Ricky das Gefühl hatte, er würde von den Worten gestreichelt werden.
    „Ich bin Tala“, stellte sich sein Besucher vor. „Ich bin der Wächter des Dorfes.“
    Ricky brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis er in der Lage war, zu antworten.
    „Der … Wächter des ...“ Er starrte in die schönen Augen des Mannes. Erst eine kalte Brise, die ins Haus wehte, machte ihm deutlich, wie unhöflich er war. Er trat einen Schritt zur Seite und ließ den Fremden ein. Aber war er wirklich ein Fremder? Ricky hatte eher das Gefühl, dass er einen alten Freund, einen Vertrauten in sein Haus gebeten hatte.
    „Der Wächter des Dorfes, ja“, beendete Tala das peinliche Gestammel, das Ricky von sich gegeben hatte. Das Lachen, das darauf folgte, war nicht hämisch oder amüsiert – es klang warm und freundlich. Die Lachfalten in seinem Gesicht vertieften sich dabei.
    Ricky öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Tala schaute ihn erwartungsvoll an. Ricky konnte lediglich zurückstarren. Diese Augen. Dieses Braun.
    „Wollen ... Sie vielleicht einen Tee?“, brachte er schließlich hervor. Eigentlich war es durchaus höflich danach zu fragen, allerdings hatte Ricky eher das Gefühl, nichts als Unsinn von sich zu geben. So hatte er sich seit der sechsten Klasse nicht mehr gefühlt.
    „Sehr gerne. Ja.“
    Tala legte seinen Mantel ab und ließ sich auf dem Boden vor dem Kamin nieder, genau auf dem Kissen, das der Hund immer zum Schlafen bekommen hatte. Mit pochendem Herzen eilte Ricky in die Küche und kam mit der Kanne Tee und einem zweiten Becher zurück ins Wohnzimmer.
    Wie angewurzelt blieb er vor Tala stehen. Seine Hände zitterten leicht, als er ihm den Becher reichte und dafür ein strahlendes Lächeln erhielt. Fasziniert beobachtete er, wie Tala sich die Haare über di e Schultern strich, u nd spürte, wie in ihm der Wunsch aufkam, diese Mähne zu berühren. Ob sie nicht nur die Farbe mit dem Fell des Hundes gemeinsam hatte, sondern ebenfalls dessen Weichheit? Wie hypnotisiert ließ sich Ricky neben Tala sinken, wobei er das Kunststück fertigbrachte, nichts von dem Tee zu verschütten.
    Auffordernd hielt Tala ihm die Tasse hin und schaffte es mit dieser simplen Bewegung, dass Ricky sich wünschte, der Erdboden würde sich auftun und ihn verschlucken, so peinlich war ihm seine Geistesabwesenheit.
    „Entschuldige“, murmelte er und ging damit gleich zu der vertrauteren und persönlicheren Form über, beugte sich vor und schenkte Tala den Tee ein. Als er den Kopf hob, stockte ihm der Atem. Er hatte nicht gemerkt, dass Tala ihm so nahe gekommen war. Jetzt trennte sie kaum eine Handbreit Platz voneinander. Tala legte auf eine gewisse Art den Kopf leicht schief, die Ricky noch mehr an
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