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Wogen der Sehnsucht

Wogen der Sehnsucht

Titel: Wogen der Sehnsucht
Autoren: India Grey
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sagte Lily mit schwacher Stimme. „Ich weiß es.“ Sie zögerte. „Bianca – könnten Sie unter Umständen … ich meine, wüssten Sie vielleicht, wie ich eine Art Privatflug organisieren kann?“
    „Natürlich.“ Bianca klang ein wenig herablassend. „Das gehört zu meinen Hauptaufgaben.“
    „Gut. Dann organisieren Sie mir einen Flug von London nach Khazakismir. Ich möchte noch heute Abend fliegen.“
    Tristan saß auf einer harten Holzbank in der Dorfkirche, den Kopf gegen die Wand gelehnt.
    Seine Augen waren geschlossen, aber er schlief nicht. Er würde nicht zulassen, dass er einschlief, obwohl jeder Muskel und jede Zelle seines Körpers vor Erschöpfung schrie. Er musste wach bleiben und das Baby in seinen Armen festhalten. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern sah er immer wieder die Ereignisse der vergangenen Nacht, sah, wie Irinas lebloser Körper aus den Trümmern ihres Hauses gezogen wurde, sah Dimitri neben seiner toten Schwester zusammenbrechen. Und er hörte wieder das Weinen des Babys, fühlte noch einmal die hektische, angestrengte Verzweiflung, mit der er es zu erreichen versuchte, und rang wieder nach Luft, als es ihm endlich gelang, sich in den winzigen Hohlraum zwischen dem eingestürzten Dach und den Trümmern aus Ziegeln und Putz zu schieben, die einmal Irinas Haus gewesen waren.
    Und das war der Teil, wo der Film in seinem Kopf immer wieder anhielt und zurückspulte. Er konnte das Baby sehen, den kleinen Fuß, der sich in dem schmutzigen rosafarbenen Schlafanzug bewegte, aber wenn er die Hand ausstreckte und versuchte, sich mit der Schulter in den schmalen Spalt zwischen den Dachbalken und der Wand zu zwängen, schien es ihm immer wieder zu entgleiten …
    Mit einem Aufschrei wachte er auf, und seine Arme schlossen sich reflexartig um das Bündel in seinen Armen. Voller Entsetzen blickte er auf die leere Decke, die er an seine Brust gepresst hielt …
    „Alles in Ordnung, Tristan. Es geht Emilia gut, sieh doch – sie ist hier.“
    Lily.
    Es war Lily. Sie stand vor ihm und hielt das schlafende Baby im Arm.
    Tristan ließ den Kopf in seine Hände sinken und rieb sich mit den Fingern hart über die Augen, die sich immer noch anfühlten, als wären sie voller Splitt. Er war sich einfach nicht mehr sicher, ob er wach war oder schlief. War das noch eine Szene aus der unzusammenhängenden Serie seiner Träume?
    Er hörte ihren Rock leise rascheln, als sie sich neben ihn setzte. Es war der Rock, den sie im Garten getragen hatte, als die Sozialarbeiterin gekommen war, bemerkte er; war das einen Tag oder einen Monat oder ein ganzes Leben her? Und dann nahm er den sauberen Mandelduft ihrer Haut wahr und wusste, dass sie tatsächlich da war.
    Langsam hob er den Kopf.
    „Warum bist du gekommen?“ Seine Stimme klang heiser, und seine Kehle schmerzte, weil er die ganze Nacht geschrien hatte. Anweisungen an Nico und Dimitri und Hunderte andere, die wie er in einem Wettlauf gegen die Zeit nach den Verschütteten unter den Trümmern suchten. Ein Kamerateam war auch dort gewesen, plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, und in dem Chaos der Bergungsarbeiten war er zu beschäftigt gewesen, um den alles enthüllenden Linsen auszuweichen wie sonst. In einem entfernten Teil seines Gehirns wusste er, dass damit das ausgeklügelte Spiel, das er seit Jahren mit den Zeitungen und den Paparazzi trieb, vorbei war. Jetzt würde alles ans Licht kommen. Doch es war ihm seltsam egal.
    Lily seufzte leise und sah ihn mit großen grauen Augen ernst an. „Bianca hat angerufen. Dein Vater hatte gestern einen Herzinfarkt. Sie glauben nicht, dass er durchkommt.“
    Tristan atmete schwer aus und lehnte den Kopf wieder gegen die Wand, während Verzweiflung in ihm aufstieg. Nicht wegen Juan Carlos, sondern weil er einen Moment lang geglaubt hatte, Lily wäre gekommen, weil sie ihn wollte. Weil sie ihn liebte.
    „Du bist den ganzen Weg hergekommen, um mir das zu sagen?“
    „Ich dachte, dass du ihn vielleicht noch einmal sehen willst, bevor er stirbt“, sagte sie leise. Sie wiegte das Baby ganz sanft, fast unmerklich, in einem instinktiven mütterlichen Rhythmus, der so alt war wie die Welt. „Ich wollte, dass du die Chance dazu hast, bevor es zu spät ist.“
    „Ich fürchte, du hast die Reise umsonst unternommen“, erwiderte er heftig. „Juan Carlos kann an den Platz in der Hölle gehen, den er sich schon vor Jahren dort reserviert hat, ohne dass ich ihm noch eine gute Reise wünsche.“ Er blickte auf und runzelte
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