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Wogen der Sehnsucht

Wogen der Sehnsucht

Titel: Wogen der Sehnsucht
Autoren: India Grey
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düsteren Samstage dachte, die er mit Lily in einem Bürgersaal im Norden Londons hatte verbringen müssen. Dort waren sie ausführlich über die körperlichen Auswirkungen aufgeklärt worden, die die Drogen- oder Alkoholsucht der Mutter auf das ungeborene Kind haben konnte, und auch über die mentalen Folgen von Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch.
    Themen, in denen er sich bereits exzellent auskannte. Manchmal hatte er das Gefühl gehabt, den Vortrag auch selbst halten zu können.
    „Jetzt“, fuhr die Sozialarbeiterin fort und schüttelte den Kopf, als Lily ihr Zucker anbot, „wollen wir mehr über Sie erfahren, sodass wir das passende Kind für Sie finden können. Wir glauben, dass die Erfahrungen, die Leute selbst in ihrer Kindheit machen, sehr viel darüber aussagen, was für Eltern sie sein werden.“
    Ach nein.
    „Es ist wichtig, dass Sie so ehrlich sind wie möglich – die Wahrheit kommt im Laufe des Adoptionsprozesses meist ohnehin ans Licht. Standen Sie und Ihre Mutter sich nah, was würden Sie sagen?“
    So muss es sich anfühlen, auf dem Schafott zu stehen, dachte Tristan niedergeschlagen. Wenn man nicht mehr weglaufen oder sich verstecken kann. Aber er hatte es Lily versprochen. Er schuldete es ihr. Egal, was es ihn kostete.
    „Nicht wirklich“, sagte er steif. „Meine Mutter steht eigentlich nur dem Alkohol sehr nah, und ich wurde mit acht Jahren auf ein Internat nach England geschickt.“
    Hinter ihrer Brille blinzelte die Sozialarbeiterin. „Wie fanden Sie das?“
    „Ich war begeistert.“
    Miss Squire wirkte zutiefst schockiert, als hätte er gerade zugegeben, gerne kleine Katzen zu quälen. „Wirklich? Dann sind Sie also dafür, Kinder von unpersönlichen Institutionen erziehen und nicht in der Familie aufwachsen zu lassen?“
    Er wich ihrem Blick nicht aus. „Ja, wenn die Familie so ist wie meine.“
    Unter dem Tisch griff Lily nach seiner Hand und hielt sie fest.
    „Könnten Sie das etwas näher erläutern?“
    Panik stieg in Tristan auf, so als würde jemand ihm ein Tuch vor das Gesicht halten und ihm das Atmen und Denken schwer machen. Der ruhige Garten mit dem Kirschbaum und dem Gesang der Vögel kam ihm plötzlich unwirklich vor. Das Einzige, woran er denken konnte, war die Dunkelheit in seinem Innern.
    Nur Lilys Hand verankerte ihn in der Realität. Er spürte, wie ihre Finger sich fest um seine schlossen, während ihn die Erinnerungen in ein schwarzes Loch hinunterzogen.
    Er lachte, und selbst in seinen eigenen Ohren klang es schrecklich und rau. „Mein Vater ist der elfte Herzog von Tarraco und ein direkter Nachfahre einer der ersten Familiares – Kollaborateuren der spanischen Inquisition. Das sollte Ihnen alles sagen. Meine Familie ist berühmt und reich und mächtig, weil sie sich nicht scheute, von der Streckbank und den Daumenschrauben Gebrauch zu machen. Grausamkeit liegt bei uns in der Familie.“
    „Wollen Sie damit sagen, dass Ihr Vater grausam zu Ihnen war, Mr. Romero?“, hakte Miss Squire nach.
    „Natürlich nicht“, erwiderte Tristan mit ironischer Stimme. „Es war keine Grausamkeit . Nein – alle Prügel, die wir bekamen, jeder Schlag mit dem Gürtel oder der Peitsche war gut für uns. Er war nicht grausam zu uns, er tat nur seine Pflicht , machte uns zu richtigen Romero-Männern und gab das gewalttätige und brutale Erbe an uns weiter, genau wie sein Vater es bei ihm getan hatte.“
    Lilys Hand. Die seine hielt. Ihn vor dem Abgrund bewahrte. Ein Teil seines Verstandes konzentrierte sich darauf, während er fortfuhr. „Die Banco Romero wurde ursprünglich gegründet, um das Geld zu verwalten, das man den Opfern der Inquisition wegnahm. Meine Familie“, sagte er kalt, „besitzt sogar eine unbezahlbar wertvolle Kette und passende Ohrringe, die ursprünglich jemandem gehörten, den einer unserer geschätzten Vorfahren wegen Ketzerei hinrichten ließ.“
    Lilys Gesicht war blass und entsetzt und spiegelte all das Leid, das er unter keinen Umständen hatte zeigen wollen.
    „Die Romero-Juwelen“, flüsterte sie. „Deswegen wolltest du nicht, dass ich sie bekomme?“
    Tristan nickte. „Ja. Und weil ich sie nicht ansehen kann, ohne mich an den Abend zu erinnern, an dem mein Vater meiner Mutter die Ohrringe aus den Ohrläppchen riss, weil sie beim Essen eine Bemerkung gemacht hatte, die er respektlos fand. Sie sehen also, dass nicht nur ich und meine Brüder unter ihm leiden mussten, sondern …“
    Sein Mund war plötzlich zu trocken zum Sprechen,
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