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Wogen der Sehnsucht

Wogen der Sehnsucht

Titel: Wogen der Sehnsucht
Autoren: India Grey
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Diktatoren, gewalttätigen Kriegsherren, Krankheiten und Hunger aufnahm.
    Und das alles nur, weil er den wirklich wichtigen Dingen in seinem Leben ausweichen wollte. Den Dingen, die ihm wirklich Angst machten.
    Dass er vielleicht kein guter Vater sein würde. Dass er das Erbe seines Vaters weitergeben würde, wenn er dem Kind zu nahe kam.
    Doch dann hatte er die Bilder gesehen, die sie ihm geschickt hatte. Von seinem Kind. Und ihm war klar geworden, was er so lange verdrängt hatte.
    Nur dass es zu spät gewesen war für diese Erkenntnis. Denn als er in Barcelona ankam, hatte er Lily blutend und halb tot vor dem Bett gefunden.
    Ein kleines Mädchen, hatte der Arzt ihm gesagt. Tristans Kinn spannte sich an. Und er würde es Lily sagen müssen, wenn sie aufwachte. Er würde ihr sagen müssen, was sie verloren hatte.
    „Du bist da.“
    Ihre Stimme war nur ein Flüstern – kaum mehr als ein Atmen –, doch sie ließ Tristan zusammenzucken, als hätte sie geschrien. Er zwang sich, sie anzusehen, musste jedoch feststellen, dass seine Kehle so eng war, dass er nicht sprechen konnte. Ja, ich bin da. Wo ich die ganze Zeit hätte sein sollen.
    Er nickte.
    „Was ist passiert?“, fragte sie mit aschfahlen Lippen.
    Tristan stand abrupt auf und trat mit dem Rücken zu ihr ans Fenster. Die richtigen Worte zu finden und auszusprechen, ohne dabei zusammenzubrechen, würde das Schwerste sein, was er jemals hatte tun müssen. Aber er musste stark sein für sie.
    Er hatte schließlich so wenig für sie getan.
    „Die Placenta hat sich vorzeitig gelöst … Das hat die Blutung verursacht. Als ich dich fand, hattest du schon sehr viel Blut verloren, und das Baby …“
    Mühsam drehte er sich um, die Hände in seinen Taschen zu Fäusten geballt. Dios , er musste sie wenigstens ansehen, wenn er es ihr sagte.
    „Das Baby war bereits tot.“
    Lily schloss nur die Augen, und für einen Moment schien sie so ruhig, dass Tristan schon glaubte, sie sei wieder zurück in die Bewusstlosigkeit geglitten. Doch dann sah er die Tränen, die ihr wie glitzernde Bäche die Wangen hinunterliefen.
    Er stand da, versteinert und völlig hilflos, und sah ihr würdevolles Leiden. Langsam trat er an das Bett und setzte sich wieder neben sie, nahm ihre Hand in seine. Sie fühlte sich kalt an.
    „Es tut mir leid.“ Seine Stimme war nur ein leises, heiseres Krächzen.
    Fast unmerklich nickte sie, aber ihre Augen blieben geschlossen, ließen ihn nicht teilhaben an ihrer Trauer. Das ist kaum überraschend, dachte er verbittert. Es war seine Schuld. Wie um Himmels willen konnte er erwarten, dass sie ihm vergab, wenn er sich selbst niemals würde vergeben können?
    Vor allem, wenn Lily irgendwann das ganze Ausmaß ihres Verlustes begreifen würde: dass ihr Blutverlust schon extrem groß gewesen war, als er sie fand, und dass die Ärzte die Blutung nicht hatten stoppen können, sodass sie operieren und ihr die Gebärmutter entfernen mussten …
    Dass sie nicht nur dieses Baby verloren hatte, sondern jede Möglichkeit, jemals wieder eines zu bekommen.
    Weil er nicht da gewesen war.
    Nach ein paar Minuten stand er auf und verließ leise das Zimmer. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, und sie sah nicht die Tränen, die ihm über das Gesicht liefen.
    Lily lag ganz still in ihrem Krankenbett. Sie fühlte sich hohl und unwirklich wie Luft. Alle Gefühle, die sie bis zu jener Nacht in Stowell gequält hatten – die Leere und die Sinnlosigkeit –, kehrten jetzt mit Macht zurück und füllten sie aus, bis es keinen Platz mehr für etwas anderes gab.
    Was gut war, denn dann dachte sie nicht an Tristan. Dann sehnte sie sich nicht nach ihm.
    Sie fragte sich, wo er war; ob er wieder dorthin zurückgefahren war, wo er hergekommen war, nachdem er ihr das mit dem Baby gesagt hatte. Das Bild seines verschlossenen, ausdruckslosen Gesichts erschien immer wieder vor ihrem inneren Auge, und sie hörte ihn wieder so beherrscht sagen: „Es tut mir leid.“
    Es musste schwer für ihn gewesen sein, seine Erleichterung nicht zu zeigen. Aber es war typisch für ihn, dass er seine Pflicht erfüllte.
    Die Krankenschwester lächelte freundlich und hob die schwere Krankenhausbettdecke, um nach dem Verband auf Lilys Narbe zu sehen. „Ihr Mann hat angerufen, Señora“, sagte sie in ihrem fröhlichen katalanischen Singsang. „Er möchte wissen, wie es Ihnen geht und ob er Sie heute Nachmittag besuchen kann?“
    Lily wandte den Kopf ab und biss sich auf die Lippen.
    „Ich … ich bin
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