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Wofuer die Worte fehlen

Wofuer die Worte fehlen

Titel: Wofuer die Worte fehlen
Autoren: Carolin Philipps
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immer zum Vorschein, wenn Sie nicht da sind. Ist der Junge dann unbeaufsichtigt?«
    Â»Nein, natürlich nicht.« Die Stimme der Mutter klingtempört. »Mein Mann ist da. Nachmittags ist der Junge alleine, aber spätestens um 19 Uhr oder so kommt mein Mann nach Hause. Er ist selbstständig, müssen Sie wissen, hat eine Werkstatt. Da kann es mal vorkommen, dass es später wird, wenn er einen wichtigen Auftrag zu erledigen hat. Sie wissen doch, die heutige Wirtschaftslage, da kann man es sich nicht leisten, einen Auftrag abzulehnen …« Die Stimme der Mutter wird immer aufgeregter.
    Herr Malert versucht sie zu beruhigen. »Das ist in Ordnung. Kristian ist ja fast fünfzehn und kann natürlich alleine auf sich aufpassen. Da haben wir ganz andere Fälle, da sind die Kinder schon mit sechs Jahren alleine zu Hause.«
    Die Mutter ist erleichtert.
    Â»Aber was passiert morgens?«, fragt der Lehrer weiter. »Warum fehlt er so oft? Irgendetwas stimmt mit dem Jungen nicht. Er kann kaum still sitzen, hampelt herum und muss ständig auf die Toilette. Und diese Bauchschmerzen, das ist nicht normal.«
    Â»Ich war mit ihm bei mehreren Ärzten. Ich habe alles getan. Es ist alles in Ordnung.«
    Â»Genau das ist es nicht. Manchmal sind es seelische Probleme.«
    Â»Ich sagte doch, ich habe alles getan. Ich war sogar bei einer Psychologin mit ihm.«
    Â»Und? Was hat sie gesagt?«
    Â»Sie hat nach fünf Sitzungen abgebrochen, weil Kristian nur geschwiegen hat. Solange er schweigt, kann sie nicht helfen, hat sie gesagt.«
    Â»Kristian schweigt, genau das macht uns Sorgen. Er hat offensichtlich Probleme, hat starke Schmerzen, aber er schweigt. Warum?«
    Â»Vielleicht nehmen wir das mit den Bauchschmerzen einfach zu ernst!« Die Worte der Mutter klingen so wie KristiansWorte, wenn er sich und seinen Freunden glaubhaft machen möchte, dass er doch noch eine Vier für die Englischarbeit bekommt, obwohl er genau weiß, dass es eine sichere Fünf wird.
    Â»In seinem Alter haben viele Bauchschmerzen. Eben … na … Wachstumsprobleme!«
    Herr Malert schaut sie ungläubig an. »Das meinen Sie jetzt aber nicht ernst! Sie wissen, dass es auch bei uns in der Schule Therapiegespräche gegeben hat? Frau Wischer, unsere Beratungslehrerin, hat einige Gespräche mit Kristian geführt. Viel geredet hat er aber auch da nicht. Trotzdem hat sie einen Verdacht, der auch durch viele Beobachtungen der anderen Lehrer gestärkt wird.«
    Herr Malert stockt. Er nimmt einen großen Schluck Kaffee.
    Â»Einen Verdacht? Was für einen Verdacht?« Die Stimme der Mutter wirkt sehr aufgeregt.
    Herr Malert räuspert sich. Kleine Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Er holt ein Tuch aus seiner Hosentasche und wischt sich die Stirn ab. »Es ist sehr warm hier, finden Sie nicht? Könnten Sie ein Fenster …?«
    Die Mutter öffnet die Terrassentür. »Was für ein Verdacht?«, wiederholt sie.
    Â»Also, da ist diese Sache mit den Nacktfotos von Kristians Mitschülerinnen auf dem Handy, die Pornofilme … sein Verhalten … die Schmerzen … das alles ergibt ein Bild … ein bestimmtes Bild … Wir haben den Verdacht, dass … Sie verstehen schon …? «
    Herr Malert druckst herum, die Mutter schaut ihn mit großen Augen an.
    Â»Nein«, sagt sie.
    Â»Kann es sein, dass Ihr Sohn … durch wen auch immer … miss… also missbraucht wurde … und noch wird?«
    Jetzt ist es ausgesprochen. Das Wort
Missbrauch
hängt erdrückend schwer in der Luft, legt sich wie eine Giftwolke auf alles und jeden im Raum. Herr Malert, Kristian und seine Mutter, sie alle schnappen nach Luft.
    Â»Nein, das … kann nicht sein! Das glaube ich nicht! Wer sollte so etwas …?«
    Â»Also … wie gesagt, es ist ja nur eine Vermutung … Ihr Mann hat mit ihm …. Na, Sie wissen schon … Kristian hat selber gesagt, dass sein Vater und er … die Pornofilme und da … da liegt natürlich der Verdacht nahe … Sie verstehen schon, oder? Es ist ja nur eine Vermutung …«
    Herr Malert ist erleichtert, dass er ausgesprochen hat, wenn auch etwas vage, was viele im Kollegium seit Monaten denken. Er wischt sich erneut den Schweiß von der Stirn. In solchen Momenten beneidet er die Kollegen, die keine Klassenlehrer sind und solche Gespräche nicht führen müssen. Nun hat er den Verdacht
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