Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Autoren: Anja Reich
Vom Netzwerk:
oder das Wetter. Die Stadt nimmt einen mit, wenn man nach draußen geht. In Berlin ist es oft umgekehrt. Vielleicht ist das der Preis der schönen, großen, billigen Wohnungen, in denen alles perfekt funktioniert. Jedenfalls habe ich mir den Spruch gemerkt und rufe ihn meinen Kindern zu, wenn ich sie zur Schule bringe. Es ist mein Familienvermächtnis. Mein Vater ruft manchmal: »Genau wie olle Lajussen seiner«, ohne dass ich wüsste, was das bedeutet, mein Großvater rief gern: »Ei gewiss, Herr Ungewiss«, ich rufe: »Another beautiful day in New York City«. So geht's. Irgendwann, in einem Pankower Altersheim vielleicht, wird niemand mehr wissen, was ich damit eigentlich meine, wenn sie mich auf den Balkon schieben. Aber noch sprechen es die Kinder mit. Und noch stimmt es. Der Himmel ist hoch und hellblau, die Bäume sind voll mit sonnigem, leicht angestaubtem Septembergrün, der Schulbus, der vor der Privatschule auf der anderen Straßenseite steht, ist knallgelb, die Schule ist rot, unser Nachbar Terry hat sein Haus gerade blau angestrichen. Es sind Farben wie aus einem Kindertuschkasten. Die Straßen und die Bürgersteige summen. Es gibt Privatschulkinder, die mit schwarzen Limousinen gebracht werden, die meisten Kinder aber laufen mit ihren Eltern zur 7 th Avenue, wo die P.S. 321 liegt, eine der besten öffentlichen Grundschulen der Stadt. Alles ist voller Vorfreude. André ein Berliner Freund, der uns schon nach drei Monaten besuchen kam, hat gesagt, ihn erinnere das Viertel am Morgen an die Sesamstraße. André riss sich geradezu darum, meinen Sohn zur Schule zu bringen. Und auch meine Tochter will heute unbedingt mit. Links halte ich ihre Hand, rechts die meines Sohnes.
    Man hat das Gefühl, in ein Broadway-Musical zu steigen. Ich würde mich nicht wundern, wenn jemand anfängt zu singen. Einer der koreanischen Blumenhändler auf der 7 th Avenue zum Beispiel oder der Truckfahrer von
Boars Head
, der unseren Supermarkt mit Fleisch beliefert, oder einer der nassgescheitelten, hüpfenden jungen Männer, die auf dem Weg sind zu ihren winzigen Schreibtischen in den unzähligen Immobilienbüros, die die 7 th Avenue säumen. Oder der zahnlose Bettler, der jeden Tag an der Ecke Garfield Place auf einem Hydranten sitzt und den Kindern zuruft: »Don't forget to read a book!« Die stolzen Väter, die energischen Mütter, die vertrottelten Starbucks-Angestellten und allen voran natürlich die ältere, schwarze Frau in der gelben Schülerlotsenkutte, die wie jeden Morgen auf der 1 st Street steht, über die mein Sohn zur Schule geht. Ich weiß nicht, wie sie heißt, wir nennen sie den Pinguin, weil sie klein ist und watschelt.
    Wohnungssuche in New York City.
    »Good Morning, my Angels«, ruft sie den Kindern zu, die an ihr vorbeilaufen. »Have a wonderful day, handsome«, sagt sie meinem Sohn, nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände und küsst ihn auf die Wange. Er wird immer noch ein bisschen rot, obwohl er das gewohnt ist. Der Pinguin küsst ihn jeden zweiten Tag. Ich strahle. Ich habe einen schönen Sohn. Meine dreijährige Tochter kichert. Wir stehen am Schultor und sehen zu, wie der Kopf ihres Bruders zwischen den anderen Köpfen verschwindet. Es ist eine hässliche Schule, grau, die Fenster sind vergittert, und in der Lobby sitzen zwei dicke Wachfrauen mit unfreundlichen Gesichtern. Es ist die beste Schule, die ich kenne. Als mein Sohn hier vor gut anderthalb Jahren seinen ersten Schultag begann, hatten seine Klassenkameraden an die Tafel, die Bänke, an Blumentöpfe, Fenster und alle möglichen anderen Gegenstände im Klassenzimmer kleine Zettel geheftet, auf denen in Deutsch und Englisch stand, wie sie heißen.
    Vielleicht Manhattan, vielleicht Harlem, vielleicht Brooklyn.
    Mein Sohn war im September 1999 noch in Berlin eingeschult worden und dann im Dezember nach New York gezogen. Seine Berliner Lehrerin hatte ihm eine kleine Einschätzung für seine neue Schule in Amerika geschrieben und von einer Englischlehrerin übersetzen lassen. »Ferdinand ist ein freundlicher Schüler, er hat noch Schwierigkeiten im Umgang mit der Schere«, stand dort. Das nahm mein Sohn als Botschaft mit in die neue Welt. Er hatte noch Schwierigkeiten im Umgang mit der Schere. Auf sein erstes amerikanisches Zeugnis schrieb seine New Yorker Klassenlehrerin ein knappes Jahr später: »Du bist ein wundervoller Junge. Genieße die Sommerferien. Ich werde Dein Lächeln vermissen.«
    Auf dem Rückweg trete ich mit dem linken Fuß immer auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher