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Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Titel: Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Autoren: Martin Gohlke
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seine Stadt zurückkam, um seine Mutter zu besuchen.
     

1968
     
     
    „Sie erzählen uns die ganze Zeit von der bürgerlichen Ruine. Sie sagen uns aber nicht, wie wir da raus kommen.“
    Nicht schlecht, die Bemerkung des Kommilitonen, überlegte Manfred. Er hatte es eilig, aber die bissigen Sätze bewogen ihn, auf dem Flur des Instituts für Sozialforschung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität kurz stehenzubleiben und einen Blick durch die offene Tür in den völlig überfüllten Hörsaal zu werfen, aus dem der Ausspruch hergekommen war. Dort sah man am Rednerpult ein von Entsetzen gezeichnetes rundes Gesicht eines kleinwüchsigen Hochschullehrers – ganz offensichtlich hatte der Zwischenruf des Studenten nicht seiner Auffassung entsprochen, wie sich ein Hochschüler ihm gegenüber zu benehmen hat.
    Wirklich nicht schlecht die Bemerkung, wiederholte sich Manfred. Zeit, sich mehr Gedanken zu machen, hatte er nicht, denn seine Lehrveranstaltung einen Flur weiter hatte schon begonnen und der dort waltende junge Professor sah Nachzügler überhaupt nicht gern. Aber Manfred hatte Glück gehabt. Sein Professor war mit einigen Studenten, die rings um sein Pult standen, noch über dies und das am Plaudern. Es gab nicht viele unter Seinesgleichen an der Frankfurter Universität, die das taten. Nicht in dieser Zeit, nicht im Sommersemester des Jahres 1968.
    Auch Manfreds Vorlesungssaal war an diesem Montagvormittag voll, übervoll sogar. Woher kommen nur all die Studierenden, fragten sich die Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung zuweilen. Nicht jeder, der sich hier an diesem Ort für soziologische Fragen interessiert, sei wirklich ein Student des Faches, munkelte man. Manche würden in Wirklichkeit etwas anderes studieren, in der Regel zwar auch was Geistiges, meistens Geschichte oder Literaturwissenschaft oder Philosophie oder Musik, aber eingetragene Studenten der Soziologie oder der Politikwissenschaft waren sie eben nicht.
    Und nicht nur das. Es würden sogar, so wurde die Sekretärin des Instituts nicht müde zu behaupten, Leute in den Lehrveranstaltungen und Vorlesungen sitzen, die überhaupt keine Studenten sind. Sondern in Wirklichkeit ganz normal irgendwo arbeiten; einige, da wäre sie sich ganz sicher, würden sogar gar nicht arbeiten. Das sähe sie daran, wie die herumlaufen. Der kleine Hochschullehrer mit dem runden Gesicht, dem sie das einmal erzählte, war sich unsicher, ob er nicken sollte oder nicht.
    Kann sein, dass sich die Sekretärin bei ihrer Einschätzung auf eine Erfahrung mit Manfreds äußerer Erscheinung gestützt hatte. Auch heute, an einem überaus warmen Frühlingstag, trug Manfred durchgesessene Jeans und ein kurzärmeliges Hemd ohne Kragen und Knöpfe; T-Shirt nannte man das, ein Kleidungsstück, das aus Amerika kam und in Europa zurzeit seinen Durchbruch erlebte.
    Der Raum, den Manfred mit diesen bewusst lässig wirkenden „Klamotten“, wie einige Studenten ihre Kleidung neuerdings gern betitelten, gerade betrat, war nicht viel größer als der Klassenraum einer Schule, bevölkerte aber eine knapp dreistellige Zahl von Menschen. Manfred schaute sich nach einem Platz um.
    „Hey Manfred“, hörte er jemanden sagen. „War nicht einfach, dir einen Platz freizuhalten.“
    „Hey Jürgen. Das ist aber nett von dir.“
    Jürgen und Manfred hatten sich in der Cafeteria der Universität kennen gelernt. Sie waren schnell miteinander ins Gespräch gekommen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie die gleichen Bücher bevorzugten. Zuletzt hatten sie gemeinsam etwas über den lieben Gott gelesen, wenn auch nicht die Bibel.
    „Er muss das in Gefangenschaft in Sibirien geschrieben haben“, sagte Jürgen.
    „Bist du sicher?“
    „Nein, wer ist das heute schon. Aber Bakunins Aufsatz kann als Begründung für terroristische Aktionen genommen werden. Und das ist mit seinen erlebten Frustrationen im sibirischen Lager gut zu erklären.“
    „Lies nicht zu viel davon, ich sehe dich schon Steine werfen“, schloss Manfred die Unterhaltung mit einem Grinsen ab.
    Der Professor hatte zur Ordnung gerufen, das war schon immer seine Art von Begrüßung gewesen. Er sprach im entschiedenen Ton, streng.
    „Ich hoffe, Sie haben die Woche genutzt, um sich für ein Referatsthema zu entscheiden.“
    Jürgen beugte sich zu Manfred und flüsterte: „Er hat zu viel in der Studie über den autoritären Charakter gelesen. Das färbt ab.“
    „Aber er mag sich damit. Nach Freud ist das somit kein
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