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Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Titel: Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Autoren: Martin Gohlke
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noch weiter zu gehen und sich den Gründen ihrer Erklärung bewusst zu werden, war ihr nicht möglich – ebenso wie Manfred war auch Ilona unfähig, über einen gewissen Punkt hinauszudenken.
    Zu diesem Zeitpunkt, es war im Frühling des Jahres 1958, wussten die beiden nicht, wie grausam sie das in ferner Zukunft noch einmal quälen sollte.
     
    *
     
    Zwei Monate nach dem Abitur heirateten Ilona und Werner. Im Herbst desselben Jahres zogen sie nach Bonn, wo Werner ein Umzugsunternehmen gründete. Werners Vater, der ein überregionales Fuhrunternehmen besaß und Mitglied einer Regierungspartei war, half seinem Sohn finanziell und mit seinen persönlichen Beziehungen. Möglicherweise lag in den vielfältigen Kontakten des umtriebigen Vaters auch der Grund, warum Werner nicht zur Bundeswehr eingezogen wurde.
    Werner verstand sich bestens in der Rolle eines energischen Chefs, der seine Arbeiter gut im Griff hatte. Schnell und zielsicher zu organisieren und anzutreiben, entsprach seinen Fähigkeiten und auch seinem Naturell. Die Zuverlässigkeit seines Unternehmens sprach sich in der Stadt schnell herum; immer öfter bekam er lohnende Aufträge aus der Heerschar der gut verdienenden Angestellten, die infolge einer expandierenden Bundeshauptstadt überdurchschnittlich von dem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung profitierten und in bessere Wohnungen oder Häuser zogen. Auch Werners Wohlstand ließ nicht lange auf sich warten, schon bald bewohnte er mit seiner Frau Ilona einen schmucken Bungalow. Und schon bald sollte das Paar dort nicht mehr allein wohnen; Nachwuchs war unterwegs. Und dem ersten Kind sollte bald ein zweites folgen.
    Die Rolle von Ilona beschränkte sich auf die der treusorgenden Mutter und Ehefrau. Ihrer Idee, ein Lehramtsstudium aufzunehmen, stand ihr Mann ablehnend gegenüber. „Das ist doch gar nicht nötig, ich verdiene doch genug“, war sein Argument. „Außerdem hast du die Kinder“, fügte er hinzu. Erst als Sohn und Tochter eingeschult waren, sollte sich Ilona zum Widerspruch trauen.
    Manfred arbeitete nach seiner Lehre noch einige Jahre im Gasthaus „Am Rathaus“. Mit seiner flinken und charmanten Art machte er sich unentbehrlich, der Chef fiel aus allen Wolken, als ihn Manfred eines Tages den Abschied ankündigte. Nichts konnte Manfred aufhalten, selbst das Angebot einer ungewöhnlich großzügigen Gehaltsaufstockung erzielte bei ihm keine Wirkung.
    Es war nicht nur seine Arbeit, die Manfred bald keinen Spaß mehr machte. Auch seine erste Beziehung zu einer Frau und sein ganzes Umfeld empfand er als Belastung – die kleine Stadt Neuenkirchburg, in der er geboren war und in der er seitdem ohne Unterbrechung gelebt hatte, wurde ihm unangenehm. Das betraf weniger das äußerliche Erscheinungsbild der Stadt als die Menschen, die dort etwas zu sagen hatten – dass die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts geistig enger, kleinlicher und konservativer waren als die zwanziger Jahre, erlebte Manfred vielschichtig als Seelenleid. Leute, mit denen er hätte was anfangen können, lernte er nur selten kennen, wenn doch, dann fand man nie richtig zueinander; es beschränkte sich auf unverbindliche Gespräche in der Buchhandlung.
    Es war an seinem 24. Geburtstag, als er nach einer Zeit heftigen inneren Ringens endlich den Mut zu einer schon länger in Erwägung gezogenen Entscheidung fand. Raus aus dieser Stadt, hinein in die Welt, beziehungsweise das, was er dafür hielt. Ende des Jahres 1964 zog er nach Frankfurt am Main, wenn schon, denn schon, dachte er. Er hatte nur ein Ziel: So viel wie möglich frei zur Verfügung stehende Zeit zu haben. Zeit, um lesen und sich mit Menschen seines Schlages austauschen zu können. Zeit, um den Duft der großen freien Welt atmen zu können – ganz nach einer Metapher, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, seit er sie in der Kinowerbung der Zigarettenmarke Peter Stuyvesant kennengelernt hatte.
    Sich selbst mit viel Aufwand über viele Fragen eine nachgedachte Meinung zu bilden, war der entscheidende Antrieb für Manfreds Entscheidung. Das Umfeld, das er dafür benötigte, durfte ihn nicht viel kosten. Ein Grund mehr für Manfred, in eine der neuen Wohngemeinschaften zu ziehen, ein Begriff, der für die meisten Leute von Neuenkirchburg ein Schimpfwort darstellte. Als man dort hörte, dass Manfred sich in Frankfurt mit einem anderen Mann und zwei Frauen ein Zuhause teilte, rümpften viele die Nase. Einige kannten Manfred nicht mehr, wenn er ab und dann in
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