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Wir sind unfassbar

Wir sind unfassbar

Titel: Wir sind unfassbar
Autoren: Matthias Nöllke
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alter Studienfreund Christian Sprang. Von seinem Hobby, das er seit mehr als zwanzig Jahren betreibt, hatte ich lange Zeit keine Ahnung. Denn wie fast alle Sammler dieser Anzeigen, so ging auch Christian dieser Beschäftigung, sagen wir einmal: in aller Stille nach. Dabei hatte er sogar eine eigene Website eingerichtet ( www.todesanzeigensammlung.de ), die schon damals jeden Tag von mehreren Hundert Besuchern frequentiert wurde. Eines Tages gesellte ich mich zuihnen, als ich nichts ahnend vor mich hin googelte. Im ersten Moment war ich mir nicht einmal sicher, ob überhaupt der mir wohlbekannte Christian hinter der Sache steckte oder nicht vielmehr ein etwas wunderlicher Namensvetter.
    Allerdings verflüchtigte sich dieser Zweifel recht schnell. Der Tonfall der Kommentare kam mir doch recht vertraut vor. Und die Anzeigen waren … wie soll ich sagen? Sie waren erstaunlich. Unfreiwillig komisch, rätselhaft, absurd, aber auch bitter, tieftraurig, ja herzzerreißend. Solche konzentrierten Texte, ja solche Minidramen im Trauerrand hatte ich bis dahin noch nicht gesehen. Sonst waren Todesanzeigen doch sehr stark von Konventionen bestimmt, mit immer den gleichen Bibelworten oder Trost spendenden Zitaten von Albert Schweitzer, Goethe, Hermann Hesse oder aus dem »Kleinen Prinzen« (»Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust …«). Dazu gab es die üblichen Floskeln, von denen selten abgewichen wurde. Nicht zuletzt auch weil die Bestatter für die Hinterbliebenen eine Auswahl bewährter Standardtexte bereithielten, die es völlig unmöglich machten, sich zu blamieren.
    Und tatsächlich waren die Anzeigen dieser Sammlung rare Exemplare, naturgewachsene Perlen, nach denen der Sammler täglich tauchen muss, um nach Jahren eine Handvoll zusammenzubekommen. Wie ich erfahren musste, stammte die Mehrzahl der Fundstücke von anderen Sammlern, die ebenfalls schon seit langer Zeit auf Beutezug waren. Diese Leute waren außerordentlich hilfsbereit, frei von jedem selbstbezogenen Besitzerstolz, sondern geradezu bemüht, andere an ihren Entdeckungen teilhaben zu lassen. Stellen Sie sich einen Briefmarkensammler vor, der seine British Guiana Magenta, seinen Sachsen-Dreier und Schwarzen Einser unter seinen Philatelistenfreunden herumschickt. Oder einen Weinsammler, der seinen Château Lafite 1949 entkorkt, damit auch die andern mal was Feines zum Probieren haben. So sind sie, die freundlichen Todesanzeigensammler von nebenan. Sie wollen nicht einmal das Porto ersetzt haben.
    Nun liegt der Reiz beim Sammeln solcher Anzeigen allerdings auch darin, auf Gleichgesinnte zu stoßen. Auf Mitmenschen, die das Objekt, das man aus der Zeitung geschnitten hat, genauso bemerkenswert finden wie man selbst. So gesehen ist das Sammeln von Todesanzeigen ein überraschend kommunikatives Hobby. Auch und gerade weil es sehr unterschiedliche Vorstellungen gibt, ob eine bestimmte Anzeige gelungen, geschmacklos, tragisch entgleist oder hochkomisch ist. Meist lässt sich das gar nicht so genau begründen, aber es ist allemal interessant, sich darüber auszutauschen. Sie können ja mal den Versuch machen und aus diesem Buch zwei, drei Anzeigen heraussuchen, die Sie besonders ansprechen. Und dann vergleichen Sie die mit der Auswahl Ihrer Freunde, Familienangehörigen, Arbeitskollegen oder Zufallsbekanntschaften. Anregende Gespräche lassen sich da kaum vermeiden.
    Es gab schon lange den Plan, aus der Sammlung ein Buch zu machen. Zunächst noch sehr unbestimmt. So wie die meisten Menschen ein Buch schreiben oder einen Film drehen wollen. Die erste Szene steht schon fest und der Rest ergibt sich, wenn man erst einmal anfängt, angestrengt nachzudenken. Leider ergibt sich häufig nicht die Gelegenheit, angestrengt nachzudenken, um den »Rest« in Angriff zu nehmen. Und so bleiben die meisten Bücher ungeschrieben. Was ja auch sein Gutes hat, weil man sich immer sagen kann: »Wartet nur ab, bis ich mein Buch fertig habe. Ihr werdet euer Leben ändern und die Welt in völlig neuen Farben sehen.« So in etwa. Bei uns war das jedoch anders. Irgendwann gab es ein Exposé und ein Probekapitel. Und einen Verleger Helge Malchow, der das Buch tatsächlich herausbringen wollte. Es gab nur ein Problem: Das Buch sollte 200 Seiten haben.
    Damals kalkulierte ich nüchtern: Wir bekommen vielleicht 70 bis 100 Seiten an ungewöhnlichen Todesanzeigen zusammen. Auch wenn wir Anzeigen in ausreichender Zahl beschaffen könnten, so würde sich doch manches wiederholen. Vielleicht sollte
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