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Wir neuen Großvaeter

Wir neuen Großvaeter

Titel: Wir neuen Großvaeter
Autoren: Rainer Holbe
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drei und fünf Jahren verbrachte ich – wie die meisten Kinder – viel Zeit mit meiner Mutter und deren Mutter. Großmutter Anna bewohnte ein kleines Haus in dem böhmischen Dorf Frauschiele. Es lag wie eine Raubritterburg auf einem Felsen, der die Form einer schielenden Frau hatte. Auf dem Plateau war man dem Himmel ein großes Stück näher, und man hatte zudem eine wunderbare Aussicht auf die Dörfer im Tal und auf die blauen Hügel des Erzgebirges.
    In Frauschiele lebten drei Bauernfamilien und der Fuhrunternehmer Anton Holbe mit seiner Frau Anna sowie mein Onkel, der einen gewaltigen Holzvergaser besaß.
    Die Rede ist von einem Lastauto, das noch mit brennendem Holz und einer Dampfmaschine angetrieben wurde. Hin und wieder durfte ich, hinter das mächtige Lenkrad geklemmt, ein paar Meter mitfahren.
    Bei meinem ersten Weihnachtsfest, an das ich mich bestens erinnere, muss ich drei Jahre alt gewesen sein. Meine Großmutter, die – wie schon erwähnt – einst als Köchin bei einem Fürsten gearbeitet haben soll, verstand sich auf wunderbare Weise auf das Zubereiten der köstlichsten Speisen. In Böhmen wurde der Heilige Abend an einem wohlgedeckten Tisch eröffnet. Vor dem Essen galt es, gewisse Rituale zu befolgen, damit das kommende Jahr ein glückliches werden solle. Von den tausend Regeln sind mir ein paar in Erinnerung, die übrigens auch heute noch in meiner Familie am Heiligen Abend befolgt werden.
    Das Essen begann pünktlich um sechs Uhr am Abend. Vorher wurde ein Vaterunser gebetet und jener Menschen gedacht, die in den Monaten zuvor gestorben waren. Danach trug die Hausfrau neun verschiedene Speisen auf, das sogenannte »Neunerlei«. Nur die Hausfrau durfte während des Essens aufstehen, servieren, abräumen und das Bier (für die Erwachsenen!) holen. Jedem Gericht wurde eine Bedeutung zugeschrieben. Wichtig war, dass jeweils etwas aus der Luft, aus dem Wasser und von der Erde dabei war. Die Kartoffelknödel beispielsweise standen für das große Geld, die Linsen für das kleine. Von der Semmelmilch-Suppe erhoffte man sich Schönheit, vom Selleriesalat Fruchtbarkeit und von den Bratwürsten Kraft. Es gab wahlweise gebratenen Karpfen, Wiener Schnitzel mit selbstgemachten Butternudeln, mit Speckfett, Dill und Lorbeerblättern veredeltes Sauerkraut und zwischendurch ein paar Happen vom Heringssalat. Die Bratäpfel waren mit gehackten Mandeln, Rosinen und Preiselbeeren gefüllt
und standen für die »kleinen Freuden des Lebens«. Unter jedem Gedeck war vorher eine Münze platziert worden, damit in den Wochen danach immer ausreichend Geld im Sack war.
    Großmutter achtete streng darauf, dass die Teller der Mitesser am Ende leer waren. Nur vom angeschnittenen Brot durften ein paar Scheiben übrig bleiben, die mit Salz bestreut in den Stall getragen wurden. Mir ist noch gut in Erinnerung, dass die Kühe dort über die milde Gabe hocherfreut waren. Dass das Vieh in den Ställen gegen Mitternacht miteinander ins Gespräch gekommen ist, habe ich zwar immer von den Alten im Dorf gehört, kann es aber als Ohrenzeuge nicht bestätigen.
    In der Heiligen Nacht schlief ich dem Höhepunkt der Weihnachtstage entgegen: den Gaben unter dem Tannenbaum.
    Es war Sitte, dass am Morgen nach dem Heiligen Abend beschert wurde. Mir hat das Christkind – und nur ihm hatte ich meine Geschenke zu verdanken – einmal einen Kaufladen gebracht, der übrigens nicht anders aussah als der meiner Enkel. Nur ohne Kreditkarten-Lesegerät. Und dann war da noch ein Schaukelpferd, das nach frischem Holz roch. Viel später habe ich erfahren, dass mein Onkel Hermann mit seinen Söhnen Robert und Ernst den Kaufladen und das Pferd in ihrer Werkstatt selbst hergestellt hatten.
    Den Großvater habe ich eigentlich nicht vermisst. Ich wusste ja, dass er schon vor meiner Geburt in den Himmel eingezogen war. Er dürfte aber ein prima Kerl gewesen sein. Um seinen gewaltigen Durst zu stillen, hat er seinen Hof verkauft, siedelte sich in Frauschiele an und eröffnete ein Wirtshaus. Die einzigen Gäste waren die drei Bauern, die nach der Arbeit
auf dem Feld in der Stube »Mühle« und »Dame« spielten, ihr Bier aus riesigen Krügen tranken und manchmal erst nach Hause gingen, wenn die Sommersonne sich über den Horizont schob. Meine Mutter erzählte mir, dass sich hin und wieder auch ein Wanderer in die Schenke
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