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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Autoren: Christoph Peters
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‹ – › Erhebe dich , bekenne deinen Glauben! ‹ – › Es ist lächerlich. ‹ – › Feigling! ‹ – › Du bist lächerlich. Erbärmlich. Ein Wurm. ‹
    »Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes: mein Blut , das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.«
    Carl sieht den Heiland an , der sich ihm voll Erbarmen zugewandt hat , schaut , ob sich nicht vielleicht doch ein Finger der angenagelten Hand , ein Mundwinkel im heiligen Gesicht regt , damit er den Mut faßt , aufzustehen , herauszutreten , sich aufrecht und gerade in den Gang zu stellen und das Wort zu ergreifen: › Steig herab von diesem Kreuz , Herr Jesus , und lehre das Volk , das in die Irre geht , Deine Macht zu erkennen: Steig herab. ‹
    Carl weiß , daß es geschehen würde , wenn er ohne das Zweifeln wäre. Aber er zweifelt. Der Zweifel hockt in dem Herzenswinkel , von dem aus sich das Säuseln zur Gewißheit , vom Windhauch zum Sturm aufblähen müßte , doch es raunt nur: › Nichts wird geschehen , rein gar nichts. ‹
    › Jesus , Sohn Gottes , des Allmächtigen: Gib mir ein Zeichen , ein winziges Zeichen , daß mein Glaube von Dir angenommen wird. ‹
    Sosehr er den Herrn dort oben auch anstarrt , bis seine Augen Schlitze werden , durch die das Licht in Strahlenkränzen wie von Wunderkerzen explodiert – nichts ist anders als immer.
    »Herr , ich bin nicht würdig , daß Du eingehst unter mein Dach , aber sprich nur ein Wort , so wird meine Seele gesund.«
    Gleich wird es zu spät sein. Warum spricht Er ihm nicht dieses eine Wort ins Herz , daß die Kraft einströmt , ihn durchflutet , überlaufen läßt. Dann würde er furchtlos das Wunder wirken , wie es zugesagt ist: Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn , würdet ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: Heb dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden , und verpflanz dich ins Meer! , und er würde euch gehorchen.
    »Jerusalem erhebe dich , steig auf den Berg und schau die Freude , die von deinem Gott zu dir kommt« , sagt Pastor Hünermann.
    Alle stehen auf.
    Es ist zu spät. Die ersten gehen nach vorn , um den Leib des Herrn zu empfangen. Auf dem Weg zur Kommunionbank tritt Arndts Ulli Koch in die Kniekehle. Ulli Koch wehrt sich nicht. Die Orgel , ein Leierkasten , spielt »Wachet auf , ruft uns die Stimme« . Ein Trauermarsch zu Ehren eines Toten , der alles verloren hat.
    Er hat es nicht geschafft. Er ist nichtswürdig. Ein Nichts. Weniger als ein Nichts.

I. Der steile Pfad

Eins
    Glockentöne im Abstand von Atemzügen senken sich auf die stille Fläche des Sees. Dort , wo sie das Wasser treffen , breiten konzentrische Kreise sich aus. Eine Mücke sticht hinein , geht unter. Wenige Meter entfernt springen Jungfische. Es ist halb sieben früh. Über den feuchten Wiesen jenseits der Kerme hängen schmale Streifen rötlichen Nebels , aus denen die Rücken von Rindern tauchen. Ihren Nüstern entsteigt Dampf. Auf der schmalen Straße zwischen den Pappeln diesseits des Zauns und dem Wald dahinter beschleunigt ein Traktor. Dann wieder Stille , der Gestank von Dieselabgasen , vergorenem Maishäcksel. Am Fuß der Uferböschung hocken Engler und Matze schweigend bei ihren Angeln. Der blau-weiße Schwimmer bewegt sich unruhig vor dem Schilf , wechselt die Richtung. Sie sitzen auf Hecht an. Köder ist eine Rotfeder , der sie einen Drilling unter die Rückenflosse gestochen haben. Im Fall eines Bisses reißt Matze die Rute zurück , der Haken zerfetzt die Rotfeder , bohrt sich ins Hechtmaul. Es folgt ein Kampf , bis der Hecht schwach wird. Das kann über eine Stunde dauern und reicht als Entschuldigung für Zuspätkommen zum Unterricht. Wenn Schnur , Vorfach und Knoten halten , ziehen sie ihn ans Ufer. Er zappelt , springt , schlägt um sich , bis ihm einer die Schädelplatte mit einem scharfkantigen Stein einschlägt. Anschließend ein Schnitt durch die Bauchdecke , das Ausräumen von Schwimmblase und Gedärm mit geübten Handgriffen , aber vorsichtig ; wenn die Galle verletzt wird , ist das Fleisch ungenießbar. Vielleicht entkommt er auch. Dann war er riesig , der größte , den sie je gesehen haben.
    Die Schärfe des Morgens zwischen Klarheit und Schmerz. Das Feuchte auf der Gesichtshaut stellt einen Abstand her , durch den der Mensch dahinter sich kaum noch erkennt. In diesen Wochen entgleitet Carl Tag für Tag jemand anderem. Wer erwacht heute , schaut durch wessen Augen welche Welt an? Ist sie zum Aushalten oder unerträglich? Welchen Platz
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