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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind
Autoren: Hans Fallada
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er die |14| See sah. Aber er wollte auch die See nicht mehr sehen, er verdunkelte die Fenster, und nun war immer um ihn Hetes liebste Stunde, die Dämmerung, in der alles verschwimmt und nur ganz ferne das Rauschen der See zu hören ist, das immer anzuschwellen scheint und doch nie lauter wird.
    In den ersten Tagen ging er unablässig in seinen Zimmern auf und ab und bereitete sein Herz vor. Er mußte stark sein. Seit er begriffen, daß er sie geliebt hatte, seitdem hatte er sich danach gesehnt, in ihre Stube zu kommen. An dem Duft ihrer Kleider wollte er sich erinnern, die Form ihres Körpers wollte er wiederfinden. Er wollte es nicht glauben von sich, er ging auf und ab in der Dämmernis, es war doch so leicht –! Nur auf den Flur brauchte er zu gehen, die Hand auf die Klinke zu legen – und sie war da, sie war wieder da! Er hob den Leuchter zwischen sich und den Spiegel, und dies verwüstete Gesicht mit seinen eisgrauen Zotteln, den geschwollenen Tränensäcken sagte nur: Mir ist angst. Wovor ist mir angst? Mir ist angst!
    Und die Stunden dehnten sich. Und die Tage dehnten sich. Und es war ewig Tag. Und es war ewig Nacht. Es gab nichts mehr wie eine Tote in ihrem Sarg, leicht und bleich, und auch sie gab es nicht mehr.
    Er saß in seinen einsamen Stuben und sie war wieder klein. Als sie geboren war, hatte sie eine leise Bewegung gemacht: sie hatte den kleinen Finger ihrer Hand gespreizt, da hatte er gewußt, daß sie ein besonderes Kind war. Später einmal war sie auf seinen Schoß gestiegen, sie hatte ihre Stirn an seine gelehnt, und es hatte ihr gefallen, während sie ihn küßte, Worte in seinen Mund hinein zu sprechen, und das hatte seine Nerven seltsam erregt. Aber das Spreizen des Fingers war umsonst gewesen, ihre Sprechküsse waren umsonst gewesen, sie war tot und so hatte sie nie gelebt. Zürnte er etwa auch ihr?
    Nun verging wieder Zeit. Er hörte das Rauschen des Windes und das Brausen der See. Regen bestrich naß sein Haus und vor den düstern Fenstern häufte sich der Schnee. Er |15| hatte sie versäumt, er hatte sie unwiderruflich versäumt. Ohnmächtiger Zorn erfüllte sein Herz. Sie war der Knoten gewesen, den nur er hätte lösen können, aber er hatte es vergessen, er hatte nicht einmal an die Lösung gedacht. Von ihrer Reife bis zu ihrem Tode hätte sie ihm drei Kinder gebären können. Und er sah sie vor sich, diese drei Mädchen, mit ihrem schwarzen Haar und ihrer bleichen Haut. Er war ja noch nicht alt. Auch diese drei hätten ihm aufwachsen können, er hätte ihre Reife noch als Mann erlebt. Wieder sah er neue Töchter. Er sah sich reichen durch den Wandel der Zeiten, er wäre unsterblich gewesen. Aber er hatte seine Unsterblichkeit versäumt –!
    Da saß er einsam und wüst. Um seinetwillen war sie endgültig tot, nun tötete sie alles Leben um ihn. Hatte die Tote etwa gewußt? Hatte sie ihn etwa verachtet? Er dachte an ihr bleiches Gesicht, ihre schmalen Lippen, die so oft waren wie weiß, ihre dunklen Augen hatten nichts verraten – aber hatte sie ihn nicht doch verachtet?
    Zur Gewißheit wurde es ihm, daß sie ihn gehaßt, daß sie ihn verachtet hatte. Da hatte sie weiß, mit einem grünen Kranz, im Sarge gelegen und ihr rabenschwarzes Haar war gut anzusehen gewesen, aber in ihrem Kopf hatte diese Verachtung gesessen. Nun wachte er nachts davon auf, daß er sie gesehen hatte, im Traum, wie sie dalag, weiß und still. Er hatte sich über sie gebeugt, er hatte ihre Lippen noch einmal küssen wollen, aber da hatten diese Lippen sich zurückgezogen von den Zähnen, sie hatte ihre fahlen Zähne mit einem Lächeln entblößt. Der Mund hatte sich ganz geöffnet und ihre Zunge hatte sie herausgestreckt, eine häßliche, geschwollene, blauschwarze Zunge, schrecklich anzusehen.
    Davon war er erwacht, und nun grübelte er darüber, wie die Tote zu versöhnen, wie das Versäumte nachzuholen sei. Aber darüber war alles Grübeln vergeblich, nichts war mehr nachzuholen.
    Jetzt fürchtete er sich auch vor dem Schlaf, denn es war nicht abzusehen, was von einer Toten zu erwarten war, die |16| ihre Zunge so entblößte. Ihm wurde schwindlig, er klammerte sich daran, daß sie doch seine Tochter sei – und alles verging in einem Nebel. Als er wieder wach war, saß er da und lauschte auf das Huschen und Laufen, oben, auf dem Boden. Ratten, sagte er, Ratten. Sie waren eingedrungen in dies verwahrloste Haus, schon lange hatte er ihre Spuren auf den Getreidehaufen oben gemerkt, es mußten sehr viele sein,
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