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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind
Autoren: Hans Fallada
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seinen Ohren.
    Gäntschow fühlte, wie er schneeweiß wurde, er zitterte am ganzen Leibe, er sah entsetzt die Oberin an …
    Die Oberin hatte horchend den Kopf gesenkt. Sie nickte beifällig und sagte: Es fängt an.
    Er lauschte weiter. Aber nach diesem einzelnen furchtbaren Schrei kam kein weiterer. Die Stille wurde wieder so tief, daß er sogar einen Augenblick meinte, er hätte sich eben getäuscht. Aber dann hörte er den Schrei wieder in seinen Ohren gellen, den konnte kein Mensch erfinden.
    Die Oberin sah ihn einen Augenblick prüfend an. Vielleicht gehen Sie doch noch lieber eine Stunde spazieren, Herr Gäntschow, sagte sie ganz sanft. Er bewegte wie abwehrend den Kopf. Nun, dann soll uns Berta noch einen Sessel bringen. Ich |597| leiste Ihnen hier Gesellschaft. Sie dürfen jetzt auch rauchen, wenn es nicht zu arg wird.
    Sie saßen eine lange Weile schweigend da.
    Einmal flüsterte er fragend: Wie lange kann es noch dauern?
    Die Oberin bewegte die Schultern mit einer Geste, die deutlich sagte, daß jetzt nichts mehr darüber gesagt werden könnte.
    Die Ärztin kam in einem weißen, langen Mantel, mit einer Gummischürze, in dicken Gummischuhen unbeholfen patschend über den Gang. Sie nickte den beiden kurz zu und verschwand im Zimmer. Kurz darauf ging die Oberin ihr nach. Es war gleich halb zehn. In diesem Augenblick begann es.
    Der entsetzliche Schrei ertönte wieder. Aber ehe er noch so recht in seinem Ohr angelangt war, ertönte eine ganze Serie wilder Schreie, nur höher und verzweifelter als der erste. Und dazwischen wurde ein Winseln laut, ein qualvolles Heulen …
    Er raste auf die Tür zu, griff nach der Klinke …
    Es war unaussprechlich, unerträglich …
    Das sollte Christiane sein, das, oh, das!
    Er riß sich zurück, er schlug taub den Kopf gegen die Wand, er stieß sich die Finger in die Ohren, er zog sich die Jacke über den Kopf … Nur nicht hören! Nur nicht hören!
    Aber die Schreie, das Heulen, das Röcheln, das Stöhnen, das Winseln, das Ächzen, klangen durch alles hindurch, es lärmte und toste in seinen Ohren …
    Laß es vorbei sein. O Gott, mein Herrgott, laß es vorbei sein, gleich auf der Stelle, das ist unmenschlich, das ist grausig …
    Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand, aber er spürte keinen Schmerz. Dann ließ er die Hände sinken, und atemlos, am ganzen Leibe zitternd, starrte er die Tür an, aus der wieder das Geheul hervorquoll. Er wußte nicht, wie lange das schon dauerte, ob Minuten oder Stunden.
Aber in diesem Augenblick hatte er schon alles begriffen …
    Er stand und starrte. Und plötzlich wurde es schreckenerregend |598| still. Er hörte nichts mehr. Nicht einen Laut mehr. Also sie stirbt jetzt, dachte er mühsam. Sie ist schon tot. Es ist zu spät für mich.
    Er stand da, sachte öffnete er die Tür, undeutlich sah er die weißen Gestalten der Frauen, die sich ihm zuwandten, aber dann sah er das Bett, das zerwühlte Bett – war das Christianes Gesicht –?
    Ja, komm, rief sie und streckte die Arme nach ihm aus. Komm und hilf mir!
    Sie ergriff seine kalten Hände mit ihren heißen, verschwitzten. Sie lachte fieberhaft. Aber ich habe keine Angst, Liebster, ich habe keine …
    Christianes Gesicht verzog sich. O mein Gott, schrie sie und ließ seine Hände fallen. Das ist grauenhaft! Das ist unerträglich! Geh weg! Geh weg! Ach, ich sterbe!
    Ihr ganzes Gesicht war nur ein schwarzes, strudelndes, gurgelndes Loch, und aus dem Loch brachen die Schreie hervor, einer nach dem andern, einer grauenhafter, tierischer als der andere … Er fühlte, wie jemand ihn fortführte. Der Gang leuchtete sanft, die Schreie tönten ferner … So, setzen Sie sich hierhin, sagte die Oberin. Hier, auf das Sofa, ich gebe Ihnen gleich einen Kognak.
    Aber er hatte alles begriffen. – Er hatte sie nie geliebt. Er hatte nie einen Menschen auf der Erde geliebt, er hatte immer nur sich geliebt – und nun war es zu spät. Nun starb sie!
    Er saß da, bewegungslos, wie er hingesetzt worden war, das Glas Kognak stand vor ihm, manchmal war die Oberin da und manchmal war sie wieder fort. Er wußte nicht, wie lange er hier schon saß, ob es früh oder spät war.
    Sein ganzes Leben lag vor ihm, klar, kalt, eine Schnee- und eine Eiswüste. Keine Blumen. Er wußte, jetzt kam die Strafe. Jetzt liebte er sie, und jetzt starb sie. Er erinnerte sich, wie sie heute morgen einmal in seinem Zimmer gewesen war und ein zweites Mal, sie hatte sich sogar an ihn gelehnt. Sie hatte auf ein einziges Zeichen seiner
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