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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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grauem Nebel. Währenddessen hielt der Führer einen Vortrag über Vulkanausbrüche. Hinter einer Biegung leuchtete der Nebel schwefelgelb. An manchen Stellen schaute schwarze Lava unter dem Schnee hervor. Nagl ging ohne Unterbrechung hinauf, obwohl der Führer mehrmals anhielt und nach Luft rang. Als er aber sah, daß Nagl ohne ihn weiterging, beeilte auch er sich, rascher vorwärts zu kommen. Wenn Nagl sich zu weit entfernte, blieb der Führer stehen und rief ihm nach, und sobald Nagl sich umdrehte, zeigte er ihm eine Weinflasche, die er in der Tasche trug, oder schrie sinnlos, daß er den ganzen Tag auf dem Vesuv bleiben müsse. Sie stiegen höher, und die Lava rieselte unter ihren Füßen mit einem hellen Geräusch den steilen Hang in den Nebel hinunter.
20
    Nagl blickte zum Himmel auf, doch der Himmel über ihm war derselbe undurchsichtige Nebel, in dem sich die beschneiten Hänge verliefen. Ein schmaler Weg war von Fußstapfen ausgetreten, und er ging den Fußstapfen nach. Plötzlich stand er vor dem Krater. Die Spuren hatten sich verloren, aber er hatte nicht mehr auf sie geachtet und stand so nahe am Kraterrand, daß er abzustürzen drohte. Ihm war schwindlig, er spürte ein Ziehen in den Schläfen, aber er blieb stehen. Ein riesiges weites Loch öffnete sich vor ihm, in dem Schnee lag, erkaltete Lava und Nebel. Kein Mensch war zu sehen. Er blieb stehen und schaute tief hinunter, in die Erde hinein. Nichts war da unten. Es kam ihm nicht vor, in die Erde zu schauen, sondern auf ein fremdes Gestirn. Nicht einmal der Nebel stieg hoch oder senkte sich. Hätte er einen Schritt getan, wäre er hinabgestürzt. Nur mit Mühe konnte er die andere Seite des Kraterrandes sehen. Es war ihm, als könnte er einen großen Teil der Welt überblicken, und so leer sie auch war, so hatte sie doch ihre Schönheit und Richtigkeit.
     
    Der Führer und Anna traten an den Kraterrand, und der Führer schrie in den Krater, daß das Echo zurückkam. Nagl spürte eine Bewegung, über die er sich nicht gleich im klaren war. Er hatte sich etwas anderes vorgestellt, aber was er sah, erschien ihm viel selbstverständlicher. Er sah nur dieses gewaltige Loch, den Nebel und den Schnee, und er spürte, daß die Bewegung eine Besänftigung war. Er dachte an seine Schulklasse, die Kindergesichter, an das Staunen, mit dem sie zuhörten. Aber er wußte auch, daß alles zurückliegen würde, wie eine Erfindung. Die Kinder würden zuhören, ohne sich etwas vorstellen zu können. Das Geheimnisvolle würde es sein, was sie staunen ließe, und da er das wußte, würde er geheimnisvoll erzählen. Er würde es bald aufgeben, beim Erzählen sich selbst zu überzeugen, es würde ihm genügen zu sehen, wie die Kinder mit geöffneten Mündern dasaßen. Er bückte sich und griff die Lava an. Er wußte, welche Bewegung, welche Besänftigung in ihm war, gerade, daß nichts geschah, gerade, daß sich nichts änderte, machte ihn friedlich. Ein kalter Wind ließ ihn seinen Schweiß wie fremdes Wasser spüren. Anna rief ihre Namen und sie kamen als Echo zurück. Sie kletterten einen schmalen Pfad zum Krater hinunter. Dämpfe stiegen aus den Felsen, die nach Schwefel rochen, die Felsen waren heiß, als Nagl sie berührte, und schließlich entfachte der Bergführer mit einer glühenden Zigarette Dämpfe in einer Felsspalte, die sie völlig einhüllten und durchnäßten, das Haar wurde naß und ringelte sich ein, und Nagls Barthaare im unrasierten Gesicht tropften vor Wasser. So standen sie im Vulkan, hustend und eingehüllt von einem aschenfarbenen Nebel, als plötzlich die Sonne aufging und den Nebel mit einem goldenen Licht durchleuchtete. Nagl sah die Konturen von Anna und dem Bergführer. Ganz kurz nur hielt die Witterung an, dann, ohne Übergang, zerriß der leuchtende Nebel, der sie beschützt hatte, und senkrecht, tief unter ihnen lag der Boden des erloschenen Kraters.
21
    Der Wind pfiff kalt, als sie zurückgingen. Anna ging vor ihm, unter und über ihnen lag rosafarbener Nebel, um sie herum waren nur Schnee und Lava. Das Licht war blendend und silbergrau, und dort, wo sich die Lava mit dem Schnee vermischt hatte, schimmerten violette Flecken. Sie gingen schweigend und rasch. Nagl sah seine Füße vor sich, die durchnäßten Schuhe, den Schnee, den Nebel, die Lava. Niemand begegnete ihnen. Der Himmel und die Erde waren so nah, daß sie sich berührten. Es kam Nagl vor, als müßte jemand sich so die Welt vorstellen, wenn er sie zum ersten Mal im Raum sah. Er
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