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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord
Autoren: Camilla Ceder
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Chance zu ergreifen. Auf den letzten Zug ins Unbekannte zu springen. Das ängstigt sie zwar, aber nicht so sehr wie das, was sie erwartet, wenn sie nach dem Abbruch des Gymnasiums in Borås bleibt: Die Begegnungen mit Sozialarbeitern. Das Jugendzentrum mit seinen berufsvorbereitenden Maßnahmen. Und auf lange Sicht das Jugendwohnheim, in dem sich alle Gestrandeten eines Tages wiedertreffen.
    Sie würde weiter so tun, als wäre sie mit ihren Freunden zusammen, trotz dieses einen Unterschieds, den nur sie zu bemerken scheint: Es würden immer die letzten paar Zentimeter fehlen, damit sie wirklich dazugehört. Ihr Bekanntenkreis nahm zumindest irgendeinen Standpunkt ein, machte etwas daraus, zwischen Hippiebewegung und Punkwelle aufgewachsen zu sein. Die Gleichaltrigen waren in gewissen Zusammenhängen auch politisch aktiv, aber Drogen haben sich immer wieder allzu stark in den Vordergrund gedrängt.
    Dabei hatte sie nie Angst, im Drogensumpf zu versinken. Durch Drogen wurde man glücklicher, konnte nachts wach bleiben und gegen oder für etwas Stellung beziehen. Ihre Angst bestand darin, sich nie loslösen zu können, nie weiterzukommen und eines Tages vergessen zu haben, wofür oder wogegen sie eigentlich war. Sie hatte Angst, lächerlich dazustehen.
    Jetzt sitzt sie im Speisewagen des Zuges nach Stensjön und schreibt in ihr schwarzes Notizbuch. Schwarz mit rotem Rücken. Auf den Deckel hat sie einen Zeitungsausschnitt geklebt: Ulrike Meinhof, eine Gefängnisaufnahme in Schwarzweiß. Auf die linierten Seiten schreibt sie ihre Gedichte.
    Sie schreibt viel, bewahrt aber nur wenig auf. Wenn die erste Glut sich gelegt hat und sie beim Durchlesen ihrer Worte Angst bekommt, verbrennt sie das Geschriebene. Auch im Zug liest sie ihre alten Texte und streicht einige beschämt mit wildem Gekritzel durch. Die Poesie, die sie durchgehen lässt, ist immer noch schrecklich unstrukturiert, egozentrisch und durchtränkt von Gefühlswirren. Meist geht es um Liebe. Seit der neunten Klasse hat sie ununterbrochen in dem Glauben gelebt, verliebt zu sein.
    Im Zugbistro versucht ein Eisfabrikant mittleren Alters, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Er fragt sie nach ihrer Arbeit, worauf sie erklärt, dass sie arbeitslos ist. Das hört sich reifer an, als wenn sie sagen würde, sie habe das Gymnasium abgebrochen und noch nicht entschieden, was sie mit ihrem Leben anfangen wolle.
    Er macht eine verständnisvolle Geste: »Ich unterhalte mich genauso gern mit einem Geschäftsführer wie mit einem Arbeitslosen mit Nasenring.«
    Er lädt sie auf eine der winzigen, unverschämt teuren Flaschen Rotwein am Tresen ein. Schon nach einem Glas wird er persönlich und will ihr von seiner Ex-Frau erzählen. »Ich muss mal zur Toilette«, entschuldigt sie sich und nimmt ein paar Tische weiter wieder Platz.
    Sie fängt einen Brief an ihre Mutter an, schreibt, dass das Heranwachsen für sie das Gegenteil eines ödipalen Traumas war. Einen Vater hat es nicht mal auf dem Papier gegeben, also auch keine geschlossene Elternfront. Stattdessen hat eine überängstliche, nach Bestätigung heischende Mutter ihre Tochter panisch festgehalten. Sie wollte sie bei sich behalten, als Vertraute. Als Partnerin. Ich muss hundert Kilometer Abstand zu Dir haben, damit ich mich von Dir frei machen kann, Mama . Sie sieht vor ihrem inneren Auge, wie die Mutter das Kuvert gespannt öffnet. Als hätte sie auf den Moment gewartet, in dem sie ihre Tochter endlich versteht.
    In ihrem Notizbuch hat sie weitere Seiten überschmiert. Als Teenager hatte sie ständig darüber berichten müssen, wie es ihr ging, ob in mündlicher oder schriftlicher Form. Darin war sie ihrer Mutter gar nicht mal so unähnlich. Sie erzählte so plastisch von ihren Seelenqualen, dass der Fürsorger im Jugendamt die Psychiatrie alarmierte, weil er sie für selbstmordgefährdet hielt.
    Mitten in dieser Wildnis wird sie an der Landstraße von einem VW-Bus an einer Haltestelle abgeholt. Der Bus fährt die Strecke offensichtlich nur zweimal am Tag, und er ist das einzige Verkehrsmittel, mit dem man zur Schule gelangen kann, wenn man wie My weder Auto noch Führerschein hat.
    Ende August ist es mittags noch hochsommerlich warm, doch die Abende kündigen den nahenden Herbst an. In ihrer Reisetasche liegen ein unbeschriebener Kalender, der einen Neuanfang markieren soll, ihre besten Klamotten und ein paar Gegenstände, die von ihrem Mädchenzimmer und ihrem früheren Leben erzählen.
    Ihr Magen rebelliert, das einzige
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