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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
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Romeo Tan die Stelle, wo der Tunnel in die Sickerkammer mündete. Bis zu den Hüften in eiskaltem Wasser stehend, entzündeten die beiden Männer eine Kerze, stemmten eine der Grabnischen auf, stopften die beiden Säcke mit E. E. Henrys Leichenteilen hinein, schlugen die Tür zu, sagten ein aus zwei Worten bestehendes Gebet (»Jesus Christus!«), ließen Hammer und Brechstange fallen und traten schleunigst den Rückzug an. Romeo Tan wollte gerade in den Kanalisationstunnel zurückklettern, als er ein seltsames Geräusch vernahm. Es klang wie Wind, der leise rauschend um die Gipfel eines hohen Berges streicht, oder wie das leise Zischen eines Geysirs kurz vor der Eruption. Aber es war Wasser, denn im Jerome Park öffneten sich langsam die Schleusen. »Wasser!«, sagte Romeo Tan zu Bat Charney. Fast wären die beiden ohnmächtig geworden, aber gleich darauf schlängelten sie sich wieselflink durch den Tunnel, schneller, als sie es jemals für möglich gehalten hätten. Ihre Finger krallten sich so heftig in die moosbewachsenen Tunnelwände, dass sie schon nach einer kurzen Strecke keine Nägel mehr hatten. Ihre Hände sahen aus wie Maulwurfspfoten. Aber mochten sie sich noch so anstrengen – es war zu spät. Sie hörten, wie das Wasser hinter ihnen mit einem explosionsartigen Knall in die Sickerkammer brach. Die verdrängte Luft zischte an ihnen vorbei wie eine Sturmbö. Und dann kam die reißende Flut! Die eiskalte Masse, schäumend und dunkel, prallte mit einer solchen Wucht von hinten auf Bat Charney, dass er sich wie ein Fötus im Mutterleib zusammenkrümmte und mit den Knien das falsche Gebiss ausschlug. In dieser Körperhaltung ertrank er, aber zugleich rettete er Romeo Tan, denn sein zusammengekugelter Körper wurde zu einer Art Pfropf, den die unter großem Druck stehende Wassersäule vor sich her durch das Kanalisationsrohr trieb. Vorneweg sauste Romeo Tan mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel. Auf dem Rücken liegend schlidderte er durch das moosbewachsene Kanalisationsrohr. Schon war die Biegung erreicht, wo der Stollen senkrecht nach oben führte. Romeo Tan sauste so schnell durch die Kurve, dass das Fleisch seines Gesichts so weit nach unten geschabt wurde, bis er aussah wie ein Bluthund. Er und sein toter Kumpan wurden wie ein Geschoss aus dem Stollenausgang herauskatapultiert (sie hatten den Gullydeckel offen gelassen). Romeo Tan nahm kaum wahr, wie sein Kopf ein gezacktes Loch durch ein Schindeldach brach. Plötzlich war er im Freien und flog durch die Nacht, den Sternen und einem blendend hellen Mond entgegen. Unter sich sah er in dieser Herbstnacht, so weit er blicken konnte, die Stadt ausgebreitet, ein erregender Anblick von großem Zauber. Er sah Lichter, rauchende Kamine und den Schein von Feuern am Rand luftiger Parks. Romeo Tan fragte sich, ob er wohl ins Weltall hinausfliegen würde. Aber er erreichte überhalb der Morris Heights nur eine Höhe von zweihundert Fuß, bevor es wieder abwärts ging. Ein Apfelbaum fing ihn auf. Sein Sturz bewirkte, dass sämtliche Äpfel, rund fünfhundert an der Zahl, mit einem gedämpften Prasseln zu Boden fielen. Romeo blickte ihnen nach, wie sie die leichte Anhöhe hinabrollten und sich an der Seitenwand einer Scheune zu einem Haufen auftürmten. Den Rest der Nacht verbrachte er in jenem Apfelbaum unter dem Mond. Er versuchte, die Geschehnisse zu rekonstruieren, und grübelte darüber nach, ob wohl jeder Mensch früher oder später eine solche Erfahrung durchmachen musste.
    An jenen finsteren Ort unter Tage zitierte nun Pearly Soames seine hundertköpfige Bande, um ihr eine Stunde lang seine Pläne zu erläutern. Als sich die Kunde wie ein Lauffeuer durch die Stadt verbreitete, rutschte einem Short-Tail-Banditen nach dem anderen das Herz in die Hose. Die Männer waren verzagt wie geprügelte Hunde. Ihre Angst schien ansteckend zu sein. Sogar die Stimmung in ihren Stammkneipen schien sich plötzlich verdüstert zu haben. Doch am Donnerstag um neun Uhr abends versammelte sich die Bande vollzählig in einem kleinen Obstgarten, um durch einen Gully in die Kanalisation hinabzusteigen. Die Männer vertrieben sich die Wartezeit, indem sie sich scheinbar ungerührt dumme Witzchen erzählten und spöttisch von ihren Diebereien, von den Zuständen in gewissen Gefängnissen und von anderen Bereichen ihres »Gewerbes« berichteten. Dennoch war ihnen ihre Nervosität anzumerken.
    Auch diesmal wollte Pearly wieder als Erster hinabsteigen und als Letzter zurückkommen.
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