Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht
Autoren: Melina Marchetta
Vom Netzwerk:
betraten?“
    „Weil dein Schmerz über das, was in diesen Augenblicken geschah, zu viel für sie war. Das konnte sie nicht ertragen. Dein Schmerz hat sie geschwächt. Ihr Schmerz machte dich stark. Licht und Dunkelheit. Dunkelheit und Licht.“ Ihre eisblauen Augen musterten ihn. „Ich frage mich, was meine Mutter damals im Wald in dir gesehen hat. Wie sie es geschafft hat, einen achtjährigen Jungen anzusehen und diese Willenskraft in ihm zu erkenne n – genug Stärke für unser geliebtes Mädchen, das eines Tages herrschen würde. Erinnerst du dich, was Seranonna zu dir sagte? Denn ich erinnere mich noch klar und deutlich an ihre Worte in jener Nacht. Da war ich nicht älter als du jetzt.“
    „Ihr Blut wird fließen, damit du König wirst“ , erwiderte er leise.
    „Nein.“ Tesadora schüttelte den Kopf. „Damit du ihr König sein kannst. Es gibt mehr als eine Möglichkeit für dich, ihr Blut zu vergießen, du Dummkopf.“
    Die Frauen sahen ihn an, und er spürte, wie er rot anlief. Lady Beatriss lächelte und das machte ihn noch verlegener.
    „Aus diesem Grund hat dir meine Mutter Isaboes Erinnerungen aufgebürdet, als du unser Königreich betreten hast. Nicht als Strafe. ‚Sein Schmerz soll niemals enden.‘ Wie könnte dein Schmerz enden, wenn deine Gefühle für sie so stark sind? Unsere Königin wird sich dadurch nie allein fühlen. Hast du sie in diesen Momenten nicht angesehen? Als die Dunkelheit sie fast verzehrte? Ich sah es, als sie bei uns im Kloster war. Mir gefror das Blut in den Adern. Deine Kraft liegt darin, sie davor zu bewahren, sich an die Stimmen der Vergangenheit zu verlieren.“
    Er erinnerte sich an einen Morgen vor einer Woche, als er am königlichen Gefolge vorbeigekommen war. Die Würdenträger besuchten das Flussland. Er beobachtete Isaboe aus der Ferne. Seit er wusste, wer sie war, hielt er Abstand von ihr. Für einen Moment schien sie sich von allem um sich herum zu lösen. Sie stand völlig reglos da und ihr Blick war auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Sie war in sich versunken. So hatte er sie viele Male auf ihrer Reise zurück nach Lumatere gesehen. Jetzt wusste er, was sie so belastete: die gequälten Stimmen, die auch er gehört hatte, als sie durch das Haupttor getreten waren. Die Stimmen der Vergangenheit, mit denen sie jahrelang hatte leben müssen. Er hatte von seinem Beobachtungsposten aus gepfiffen und sofort hatte sich ihr Körper gestrafft. Langsam hatte sie sich in seine Richtung umgedreht. Er hatte ihren Blick erwidert. Er wusste, der Moment tiefster Verzweiflung war vorüber.
    Und das war es, dachte er, während er die Frauen in Beatriss’ Küche betrachtete. Die Erinnerung an einen Blick, der eine große Kraft widerspiegelte. Seine Kraft. Ein Blick, der ihn dazu brachte, vor seiner Königin niederzuknien und sie anzubeten, weil er sich dadurch wie ein König fühlte.
    „Ich muss gehen“, stieß er heiser hervor.
    „Nicht in diesen Gewändern“, erwiderte Lady Abian und öffnete das Bündel der Yata.
    Er näherte sich dem Palast in einer perfekt geschnittenen Hose, einem frischen, weißen Hemd und einem weichen Lederumhang. Sein Haar war kurz geschnitten. Viele Lumaterer hatten dasselbe Ziel. Sie redeten leise miteinander und grüßten schüchtern Fremde, die sie auf dem Weg zur Feier trafen. Er hörte, wie sie von Müdigkeit sprachen, doch der Wunsch, bei ihrer geliebten Königin zu sein, war stärker. Sie sollte die Gegenwart einer liebenden Mutter, eines stolzen Vaters, fürsorglicher Schwestern und eines neckenden Bruders spüren. Niemand hatte ein schlimmeres Waisenschicksal erdulden müssen als die Königin.
    Er eilte am Haus des Priesterkönigs vorbei. Der heilige Mann saß mit Froi vor der Tür und grüßte die Menschen, die dem Palast zustrebten.
    „Finnikin!“, rief der Priesterkönig aus.
    „Ich habe keine Zeit, verehrungswürdiger Barakah. Können wir später reden?“ Jetzt sah er schon die Geschütztürme und sein Puls beschleunigte sich.
    „Nähere dich ihr nur, wenn du ihr etwas Wichtiges zu sagen hast“, riet ihm der Priesterkönig.
    Finnikin lief nun doch zu ihm hin und kniete vor ihm nieder. „Und wenn Euch zu Ohren kommt, dass ich etwas Wichtiges gesagt habe, verehrungswürdiger Barakah, werdet Ihr dann bei Tagesanbruch das Lied von Lumatere singen?“, fragte er.
    Der heilige Mann lächelte. „Ich schwöre es bei der Göttin mit den zwei Gesichtern.“
    Finnikin nickte und sprang wieder auf die Füße.
    „Finnikin?“,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher