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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Autoren: Madeleine K. Albright
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Den Kindern wurden mit Geschichten von einem alten Weib, das böse Mädchen und Jungen in ihren Sack steckte und wegschleppte, Angst gemacht. Vor den Weihnachtsfeiertagen versammelten sich ganze Dörfer zum Süßigkeiten naschen, zum Gänse oder Enten rupfen und zum Austausch von Geschichten über Feen und Geister. Die Menschen glaubten an das, was man ihnen beigebracht hatte: eine
Mischung aus biblischen Geboten, heidnischen Mythen und Benimmregeln. Ein schlafendes Kind weckte man am besten mit einem sanften Schlag auf die Stirn, weil so die Seele als Erstes aufwachte. Sowohl aus materiellen wie aus spirituellen Gründen wurde Brot – die Gabe Gottes – hoch geehrt. Wenn man auch nur einen Krümel verschmähte, mussten die Seelen im Fegefeuer bitter weinen. Freunde und Fremde wurden gleichermaßen mit einer Scheibe braunes oder schwarzes Brot begrüßt, das mit Schmalz bestrichen und mit Salz bestreut war.
    In dieser Umgebung kannte jeder jeden, und alle wussten, wo ihr Platz war, die Aufteilung der Bevölkerung in soziale Schichten war von Gott gegeben. Joseph II. gewährte seinen Untertanen zwar mehr Freiheit, aber sein eigentliches Ziel war der Erhalt des Reiches, nicht der Aufbau einer Demokratie. Mit Blick auf die Notwendigkeit einer Verteidigung wollte er eine Armee schaffen, die ihren Kaiser liebte und eine einzige Sprache sprach. Zum Schutz gegen Einfälle von Feinden aus dem Norden baute er eine achteckige Festung, die er zu Ehren seiner Mutter Kaiserin Maria Theresia taufte: Die Garnisonsstadt wurde Theresienstadt genannt, auf Tschechisch: Terezín.

3
DER WETTSTREIT
    S ir Arthur Conan Doyles erste Sherlock Holmes Geschichte Ein Skandal in Böhmen beginnt mit einem Klopfen an der Tür des Hauses 221B Baker Street. Die Identität des mysteriösen Fremden wird von dem genialen Detektiv rasch entlarvt, der den rechtmäßigen König von Böhmen an seinem deutschen Akzent erkennt. Bei diesem Plot sträuben sich jedem tschechischen Nationalisten die Nackenhaare.
    Doch im Jahr 1891, als Doyle die Geschichte schrieb, verschob sich das kulturelle Gleichgewicht bereits. Jede Vermutung, ein edler Herr aus Böhmen müsse zwangsläufig Deutsch sprechen, war inzwischen äußerst heikel. Die Aufklärung, die Französische und die Amerikanische Revolution, sowie die Industrialisierung hatten in ganz Europa ein politisches Erwachen ausgelöst. Arbeiter und Bauern gelangten allmählich zu der Überzeugung, dass ihr Leben freier und abwechslungsreicher als das ihrer Vorfahren sein könne, so dass das Feudalsystem, das dem österreichischen und ungarischen Adel Reichtum verschafft hatte, auseinanderbrach. Politische Aktivisten produzierten am laufenden Band Pamphlete, die eine Autonomie und Gleichbehandlung für die Tschechen in Österreich forderten. Slowaken legten den Fürsten in Ungarn ähnliche Forderungen vor. Diese Reformer waren nicht so kühn, die nationale Unabhängigkeit zu fordern, sondern ersuchten um die Gewährung von Privilegien innerhalb des Reiches, wie das Recht, politische Parteien zu gründen, Repräsentanten im Parlament zu wählen, eine stärkere Kontrolle über die kommunale Verwaltung auszuüben und eigene Schulen zu unterhalten.
    Nach unzähligen vergeblichen Anläufen und etlichem Blutvergießen zeigte die Agitation endlich Wirkung, wenn auch eine ungleiche. Im Jahr 1867 erkannte der Hof in Wien sein Ebenbild in
Budapest als gleichberechtigten Partner an und rief so das Königreich Österreich-Ungarn ins Leben. Eine Doppelmonarchie bedeutete jedoch zugleich, dass es zwei Regierungssysteme gab. In Ungarn wurden alle, die innerhalb der Landesgrenzen lebten, als Ungarn angesehen. Es gab keine Minderheiten und folglich für die Slowaken auch keinen Minderheitenschutz. In Österreich erkannte die neue Verfassung das Recht jeder nationalen Gruppe an, die eigene Sprache und Kultur zu bewahren.
    Österreich-Ungarn, mit tschechischen Gebieten, 1867
    Das Wiederaufleben der nationalen Identifikation in den tschechischen Gebieten wurde von intellektuellen Theorien zur Rolle der Nation in der Geschichte und zur zentralen Bedeutung einer Sprache für die Entstehung einer Nation geschürt. Wenn solche Ideen früher aufgekommen wären, hätten sie sich nicht sehr weit verbreitet, aber im 19. Jahrhundert erweiterten viele Menschen ihren Horizont durch die Lektüre einer Vielzahl von Zeitungen und Magazinen,
die nun im Umlauf waren. Neben der Bibel wurden nun vielfach auch andere Bücher gelesen. Insbesondere den
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