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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Hans-Joachim Noack
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Bezirke der Reichen radelt, über solche Unterschiede seine Gedanken. Warum es andere so viel leichter haben als er, dem das tägliche Brot keineswegs immer sicher ist, hält er für erklärungsbedürftig, aber er fragt sich das ohne Groll. Trotz der schroffen sozialen Gegensätze in seiner Heimatstadt wird seine Siegeszuversicht nur selten von Ressentiments getrübt.
    Schließlich weiß er ja nicht bloß vom Großvater, dass jene Kreise, die bislang die Geschicke der Gesellschaft bestimmen, schon bald in der Versenkung verschwinden werden. Wie sehr sich dieser Prozess gerade in Lübeck zu beschleunigen scheint, zeigt ihm kein Geringerer als der große Dichter Thomas Mann, der bereits knapp zwei Jahrzehnte vorher hinter die trügerisch-malerischen Fassaden geschaut hat, um in seinem Roman «Buddenbrooks» den Niedergang einer Patrizierfamilie zu beschreiben. Noch ehe der Schüler Frahm das 1901 publizierte Meisterwerk selber lesen kann, bleibt ihm zu seiner Zufriedenheit nicht verborgen, mit welcher Wut die städtische Oberschicht auf das Buch reagiert.
    In St. Lorenz ist das Leben zwar schwierig, aber zumindest von solchen degenerativen Erscheinungen frei. Seit sich die SPD als Antwort auf die im Kaiserreich von der Obrigkeit hartherzig vorangetriebene gesellschaftliche Spaltung eine im Großen und Ganzen am Selbstversorgungsprinzip ausgerichtete Infrastruktur geschaffen hat, fühlt man sich zusehends geborgen. Neben eigenen Einkaufsläden, Bildungs- und kulturellen Einrichtungen gibt es eine kaum noch überschaubare Fülle von Freizeitvereinen, in denen die Genossen von den Kaninchenzüchtern über die Angler bis hin zu den Radsportlern und Sängern in einem engmaschigen sozialen Netz aufgefangen werden.
    Und Herbert Frahm, der bodenständige «norddeutsche Arbeiterjunge», wie er sich später gelegentlich nennt, erweist sich von klein auf als äußerst gelehrig. Bereits als Siebenjähriger landet er bei den «Arbeiter-Turnern», tritt dem «Arbeiter-Mandolinenklub» bei und den «Falken», einer Art linken Pfadfinderbewegung, und bewährt sich danach in der SAJ, einer 1922 von der Mutterpartei aus der Taufe gehobenen «Sozialistischen Arbeiter-Jugend».
    Seine Lübecker Parallelwelt, bekräftigt Brandt Anfang der achtziger Jahre, habe er «auch als Familienersatz» empfunden; sie ist für ihn eine «neue Art von Zuhause», die darüber hinaus seiner romantischen Ader entspricht. Mit breiter Brust trägt er auf Heimatabenden oder bei Sommerfreizeiten in «Kinderrepubliken» seine schicke Kluft. Noch als betagter Herr erinnert er sich begeistert an das Hemd im «leuchtenden Blau der Kornblumen» und ein Halstuch «im Rot der Mohnblüten». Ein strenger Ehrenkodex, der den Mitgliedern Sitte und Moral abverlangt, wird von ihm so penibel ausgelegt, dass er sich rigoros für den Rausschmiss mehrerer beim Trinken und Rauchen erwischter Kumpane einsetzt.
    Den damals mitunter prüden Parteigranden imponiert so viel Selbstzucht. Der Tugendbold ist gerade mal fünfzehn Jahre alt, als ihn seine SAJ-Ortsgruppe «Karl Marx» zu ihrem Vorsitzenden wählt. «Entgegen der Üblichkeit» wird er bereits im darauffolgenden Jahr in die SPD aufgenommen.
    Er sei in die sozialistische Bewegung «praktisch hineingeboren» worden, erklärt Brandt nach seiner Rückkehr aus der Emigration den ihm gegenüber noch längere Zeit misstrauischen Deutschen. Dabei legt er einigen Wert auf die Feststellung, er habe sich anders als viele Altersgenossen, die sich häufig von angeblich wissenschaftlich begründeten, aber nicht selten abgehobenen «Theorien» leiten ließen, nahezu ausschließlich an der ihn umgebenden «Lebenswirklichkeit» orientiert.
    Die bringt ihm bei allen sonstigen Anregungen zunächst keiner besser nahe als «Ludden» Frahm. «Stark im Glauben und einfach im Denken», vermittelt er ihm in der ersten Phase seiner Sozialisation etwa den «Wert öffentlicher Ordnung». So sei er dabei gewesen, gibt der Enkel später gerne zum Besten, wie der Großvater als Mitglied der «Vereinigung Republik» einmal sogar in einem Lübecker Polizeirevier für die kurzfristig entmachteten Beamten hoheitliche Aufgaben übernommen und einen beim öffentlichen Urinieren ertappten Passanten mit ein paar leichten Schlägen aufs Hinterteil bestraft habe.
    Zugleich versorgt ihn der rührige Parteiveteran regelmäßig mit Informationen aus der aufregenden großen Welt. Von ihm erfährt der auf spannende Geschichten erpichte junge Pionier von den Schrecken
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