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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Hans-Joachim Noack
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Konsumverein», während er sich zum Vater in der denkbar distanziertesten Form äußert: Dem sei er nie begegnet, habe nicht einmal gewusst, wer er war, und es auch nie wissen wollen.
    Das mag für den jungen Herbert zutreffen – der aus der skandinavischen Emigration zurückgekehrte Willy Brandt dagegen weiß bereits seit 1947 Genaueres, aber darüber schweigt er konsequent. Da sich der Erzeuger, den er problemlos hätte ausfindig machen können, nicht nach ihm erkundigt habe, halte sich auch seine Neugier in Grenzen, bescheidet er unbeirrbar allen, die nach dem Grund seiner Gleichgültigkeit forschen. Erst seine dritte Ehefrau, die Publizistin Brigitte Seebacher, lockt ihn in den achtziger Jahren aus der Reserve.
    Doch als er sich in den 1989 erschienenen und nun durchgehend von eigener Hand verfassten Memoiren endlich als Spross eines 1958 in Hamburg verstorbenen Lehrers namens John Heinrich Möller zu erkennen gibt, regt das kaum noch jemanden auf. Die Öffentlichkeit interessiert sich eher dafür, was der längst weltweit hofierte Sozialdemokrat über die Hetzkampagnen zu Beginn seiner bundespolitischen Karriere zu sagen hat. Damals hatte Konrad Adenauer die ungeklärte Herkunft seines Rivalen zum Reizthema aufgebläht, um dann lustvoll gegen diesen «Herrn Brandt alias Frahm» zu Felde zu ziehen.
    Weshalb er seinerzeit nicht einfach «zurückgeschlagen» und die «banale Personalie» ungeniert «auf den Tisch» gelegt habe, fragt sich der sechsundsiebzigjährige Altkanzler nun selber und offenbart sich den Lesern als ein immer wieder seltsam gehemmter und zumal im Privatbereich beschwerlich «unbeholfener» Mensch. Mit den Umständen seiner Geburt sei ihm von Kindesbeinen an ein tiefsitzender, schmerzender «Stachel» eingepflanzt worden.
    Der SPD-Spitzenkandidat von 1961 mag sich über solche Empfindungen noch nicht verbreiten. Als Regierender Bürgermeister pflegt er im geteilten Berlin das Image eines hochdynamischen Frontstadt-Kommandanten, dessen Medienstrategie amerikanischen Mustern folgt – und dieser auf möglichst unkomplizierte Rezeption seiner Vita bedachte Grundton bestimmt auch die von Leo Lania aufgezeichnete Rückschau. Welche Probleme ihm als Junge zu schaffen machen und wie sehr er sich in dieser Phase insbesondere nach einer männlichen Bezugsperson sehnt, verpackt der Ghostwriter bestenfalls in lockere Anekdoten.
    Vermutlich leicht überzogen schildert er etwa jenen Augenblick, als der Großvater Brandts aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrt. Obwohl der 1914 zu den Waffen gerufene Soldat Ludwig Frahm dem Enkel eigentlich fremd sein muss und «nach Schweiß, nassem Leder, Pulver und Öl stinkt», klettert der zutrauliche Steppke sofort auf seinen Schoß. Ihm zärtlich die Bartstoppeln kraulend, sagt er von Stund an «Papa» zu ihm.
    Bis dahin verlaufen die Jahre, in denen der stille Herbert im Lübecker Arbeiter-Vorort St. Lorenz aufwächst, in einem nach seinen späteren Bekundungen ziemlich öden Gleichmaß. Weil die Mutter den Unterhalt zu verdienen hat und sich bei einem Wochenlohn von zwanzig Mark nur an Sonntagen um ihren Sohn kümmern kann, lässt sie ihn von einer Nachbarin versorgen. Materiell geht es ihm nicht schlecht; das belegen Fotos, auf denen er stolz in adretten Matrosenanzügen und einmal gar mit Pickelhaube auf dem Kopf posiert. Doch es fehlt ihm häufig die Nestwärme.
    Er wolle «das mit der schwierigen Kindheit nicht dramatisieren», versichert der gerade zum SPD-Chef gewählte Politstar 1964 im Gespräch mit dem TV-Journalisten Günter Gaus, und es scheint ihm wichtig zu sein, der aufstiegsorientierten Mutter beste Absichten zu unterstellen. In seinem Bild, das er sich von ihr bewahre, sei sie «auf eine unverkrampfte Art naturverbunden und kulturhungrig» – eine umtriebige, strebsame Dame, die der sozialistischen «Freien Jugend» angehört und ein Abonnement bei der Lübecker «Volksbühne» besessen habe.
    In Wahrheit hat er zu ihr wohl ein eher ambivalentes Verhältnis. Sosehr sich Willy Brandt nach dem Zweiten Weltkrieg um gute Kontakte zu seiner Familie bemüht, so unverblümt bringt er als alter Mann zu Papier, welchen Ursachen er seine Neigung zur Introvertiertheit anlastet: Da ihn die «Frau, die meine Mutter war», wie er eisig notiert, oft sich selbst überließ, habe er lange mit sich allein auskommen müssen, weshalb es ihm schwergefallen sei, seine «Gefühle und innersten Gedanken mit anderen zu teilen».
    Doch als er knapp sechs Jahre alt ist und zu
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