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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville
Autoren: T. C. Boyle
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sich kurz, bevor er die nächste verschlang –, aber hier, im sanft beleuchteten Speisewagen, war alles Mahagoni und Kristall. Wirklich erstaunlich. Kaum zu glauben, daß sie mit nahezu vierzig Meilen pro Stunde dahinschossen – der Waggon bebte kaum merklich, der Champagner schwappte nicht über den Rand des Glases, auch nicht, wenn die Topfpalme gelassen über seinem Tisch schwankte. Er konnte die vibrierenden Gleise spüren, selbstverständlich, aber das war nichts als ein weit entferntes Pochen; es kam ihm vor, als ob seidene Fäden ihn durch die trostlose Landschaft zögen.
    Er hatte die Platte mit den Austern halb geleert – sechs nackte Schalen, sechs volle –, als der schwarze Kellner den Gang entlang auf ihn zustolzierte, zwei Speisekarten an die Brust gedrückt, ein ausgezehrtes Paar im Schlepptau. Charlie sah sich schnell um und mußte zu seinem Entsetzen feststellen, daß sein Tisch der einzige für vier Personen war, an dem nur ein Gast saß, und außerdem mußte er feststellen, daß sie direkt auf ihn zusteuerten. Soviel zu einsamen Vergnügungen.
    »’Tschuldigung, Sir«, sagte der Neger und senkte besänftigend den Kopf, dann rückte er der Frau den Stuhl gegenüber Charlie zurecht (sie war in den Dreißigern, zu blaß, zu dünn, hübsche Augen, ein dreistöckiger Hut, schief wie der Turm von Pisa, verziert mit künstlichem Obst, Spitzen, Bändern, einem Sortiment Tand und einem kleinen, bleichen toten Vogel mit Glasaugen, der auf einem Zweig aus Draht thronte) und den Stuhl neben ihr für den Mann (zu große Nase, widerspenstiges Haar, gekleidet wie ein Prinz auf dem Weg zur Oper). Charlie waren sie augenblicklich unsympathisch, aber dann wurde er etwas milder gestimmt; war wie immer gewillt, den Reichen Konzessionen zu machen.
    »Guten Abend«, offerierte Charlie. Er trug einen Anzug aus blauer Serge – ein bißchen fusselig vielleicht, aber das rosa-weiß gestreifte Hemd hatte er höchstens drei- oder viermal getragen, und die Manschetten und den Kragen hatte er erst am Morgen gekauft.
    Die Frau lächelte – sie hatte auch hübsche Zähne. Und Lippen. »Abend«, murmelte der Mann und reichte dem Kellner die Weinkarte zurück, als wäre es Abfall, dann legte er die Speisekarte verkehrt herum auf den Tisch, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Er fixierte Charlie mit einem kaum merklichen Silberblick, sah ihn vielleicht einen Augenblick zu lange an und brach in ein Grinsen aus. Plötzlich schoß eine fleischlose Hand, gefolgt von einem knochigen Gelenk, über den Tisch, und Charlie nahm sie überrascht in die seine. »Will Lightbody«, sagte der Mann mit einer vor übermäßiger Begeisterung dröhnenden Stimme.
    Charlie nannte seinen Namen, entzog ihm die Hand und wandte sich der Frau zu.
    »Mr. Ossining«, sprach Will, und seine Stimme klang jetzt seltsam hohl, als spräche er vom Grund eines Brunnens, »darf ich Ihnen meine Frau vorstellen, Eleanor.«
    Der hoch aufragende Hut erbebte unter seinen Auswüchsen, ein Paar scharfer, spöttischer Augen hielten Charlie fest wie eine Pinzette, und Eleanor Lightbody murmelte einen Standardgruß. Es folgte Schweigen, Eleanor blickte auf ihre Speisekarte hinunter, Will grinste unangemessen, hemmungslos, ein dreißigjähriger Schuljunge mit einem neuen Spielzeug. Charlie begann sich zu fragen, ob er nicht ein wenig gestört sei.
    »Austern«, sagte Will plötzlich. Eleanor sah von der Speisekarte auf.
    Charlie blickte auf das halbe Dutzend Schalentiere auf seinem Teller und dann auf Wills grinsendes Pferdegebiß. »Ja. Bluepoints. Sie sind köstlich, richtig süß … Möchten Sie eine probieren?«
    Das Grinsen erlosch. Wills Unterlippe schien zu zittern. Er sah zum Fenster hinaus. Es war Eleanor, die diesmal das Schweigen brach. »Es ist wegen seinem Magen«, sagte sie.
    Sein Magen. Charlie zögerte, überlegte, welches die angemessene Reaktion sei. Mitgefühl? Überraschung? Eine geistreiche Apologie der verdauungsfördernden Eigenschaften der Austern? Er sah wehmütig auf seinen Teller – die Atmosphäre mußte bereinigt werden, bevor er die nächste Schale in Angriff nehmen konnte, soviel stand fest. »Dyspepsie?« fragte er sich laut.
    »Ich habe seit drei Wochen nicht mehr geschlafen«, sagte Will. Er fummelte an den Ecken der Speisekarte herum und fing an, unter dem Tisch nervös mit dem Fuß auf den Boden zu klopfen. Ohne das vorteilhafte Grinsen war sein Gesicht länger und schmaler, die Augen hatten sich in ihre Höhlen zurückgezogen,
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