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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit
Autoren: Uwe Anton
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»Vielleicht werden sie sogar etwas … tun. Da gibt es viele dunkle Flecken in ihrer Art des Denkens. Dinge, die wir nicht verstehen. Die zu fremdartig sind.«
    »Sie haben Angst.«
    »Wir haben Angst«, bestätigte Karl von Hutten.
    Valentin schwieg für einen Moment.
    »Sechs Millionen Menschenleben«, erinnerte Bernstein. »Nur daran sollten Sie denken, Valentin. Sie müssen es tun.«
    Sechs Millionen Menschenleben. Valentin nickte. Er war Reinkarnaut. Er wußte um den wahren Wert eines Menschenlebens. Der Tod war nicht das Ende; niemand mußte den Tod fürchten; er war nur das Tor, das ins nächste Leben führte. Aber es war ein Verbrechen – das größte denkbare Verbrechen –, das Leben eines Menschen vorzeitig zu beenden. Weil das Leben dazu da war, die Seele heranreifen zu lassen. Damit sie die Ketten der materiellen Welt abschütteln und in die wahre Welt aufsteigen konnte. Valentin schloß die Augen, und er sah – blaß und undeutlich wie eine vergilbte Fotografie – die tanzenden Monaden im raumlosen Raum, im Raum ohne Schatten und Täuschungen, durchdrungen von der Musik der Schöpfung, der Ouvertüre ohne Anfang, ohne Ende, der Ouvertüre aus dem Licht, das niemals erlosch.
    »Ich bin bereit«, sagte er schlicht.

 
8
     
    Während sie in der Servicezone der Sterbesuite die Vorbereitungen für den Transfer trafen und Doktor Janosz den Robodoc für Huttens Tod und Valentins Rückkehr ins Leben programmierte, breitete sich im Institut der gespenstische Einfluß der Retrozeit aus. Aber diesmal lag es nicht an Lu Lohannon, sondern an der Maschine aus Kristall und bionischen Schaltungen, die über ein System orbitaler Umspannstationen mit dem eigentlichen Zeitsondenkomplex in Heidelberg verbunden war. Die Maschine nahm die ganze Glaswand zwischen Servicezone und Sterbesuite ein, und wenn man dicht vor sie trat, spürte man den Puls der Zeit, aber die Pulsschläge lagen nicht hintereinander, sondern waren nebeneinander aufgefächert, wie ein einziger stetig ansteigender Ton, der gleichzeitig von unzähligen Instrumenten gespielt wurde.
    »Die Zeit ist nicht linear«, erklärte Professor Garfunkel und strich mit zärtlichen Händen über die Kristallhaut der Chronosonde, als wäre die Maschine eine Frau und er zu ihr in Liebe entbrannt. »Die Gegenwart ist nur eine von vielen Türen, und es liegt allein an uns, an unserem Bewußtsein, welche Tür wir öffnen.« Er trat zurück und las die Meldungen auf dem Kontrollmonitor. »Der Weg zur Zeit«, fügte er mit einem Seitenblick zu Valentin hinzu, »führt durch die Pforten der Wahrnehmung. Spüren Sie es, Mr. Valentin? Spüren Sie es?«
    Valentin spürte es. Wie sich sein Bewußtsein entfaltete, als wäre es bislang in der Schwerkraftfalle eines Schwarzen Lochs gefangen gewesen, wie es sich emporwölbte, den Ereignishorizont überschritt, wie es weiter und weiter wuchs, sich ausdehnte, mit einer Geschwindigkeit, die das Licht vor Neid erröten ließ, bis es die ganze sinnlich erfahrbare Welt durchdrang und von ihr durchdrungen wurde. Er sah die Jahre wie Sterne im Kosmos der Zeit, er sah die Stunden wie Kometen ihre Bahn ziehen, er sah die Sternschnuppen der Sekunden im Äther der Wahrnehmungen verglühen. Die Zeit war eine tiefe See, und er tauchte bis zum Grund, nur um festzustellen, daß es keinen Grund gab, nur neue Tiefen, unauslotbar. Er breitete die Arme aus, und zwischen seinen Händen, wie eine Ziehharmonika aus dreidimensionalen Bildern, sah er seinen Lebensweg, wahllos herausgegriffene Momentaufnahmen, und er spürte – er wußte –, daß es genügte, nach einem dieser Standfotos zu greifen, um die Pforte zu durchschreiten und im Gewesenen zu leben, das nie vergangen war.
    »In solchen Momenten«, hörte er Karl von Hutten sagen, »ist alles möglich.« Hutten war jung und von der Krankheit des Alters geheilt, und er war siech und krumm, und er war ein Kind, ein Leichnam, ein Säugling und grauer Staub in einem halb vermoderten Sarg. Er saß zusammengesunken in seinem Rollstuhl, unter der Scannerglocke des Robodocs, und schwang zum rhythmischen Pulsschlag der Zeit wie ein Pendel durch die acht Jahrzehnte messende Spanne seines Lebens.
    »Es ist unheimlich«, flüsterte Benjamin Bernstein. In seinen Augen flackerte Angst, in seinen Augen spiegelten sich die brennenden Barrikaden in den Straßen von Tel Aviv. Er ging die Jahre zurück, zurück zu den Nächten aus Blut und Explosionen, zu den Heuschrecken aus Stahl, die in schwarzen Wolken aus den
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