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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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gelangten wir wieder an einen Kontrollpunkt. Routiniert schnappte sich Dennis ein weiteres Blatt Papier von dem Packen und drückte es in die ausgestreckte Hand des Wachpostens. Auf dem Schild am Kontrollpunkt stand PRIPJAT .
    *
    Pripjat ist, mehr noch als der Reaktor selbst, die Hauptattraktion eines Tagesausflugs ins Sperrgebiet. Vor 1986 war es eine Stadt mit fast fünfzigtausend Einwohnern, von denen fast alle Jobs in einem der vier Kernreaktoren gleich am Ende der Straße oder auf dem Bau von weiteren Reaktoren hatten. Zur Zeit des Unfalls standen die Reaktoren Nr. 5 und 6 kurz vor der Fertigstellung und weitere sechs waren in Planung – der Komplex hätte den gesamten Energiebedarf der Umgebung abgedeckt.
    Die Einwohner Pripjats bekamen schnell mit, dass es einen Unfall gegeben haben musste. Von den oberen Stockwerken der hohen Wohnblöcke aus konnte man den Rauch sehen, der aus dem Schlund des zerstörten Reaktorgebäudes in etwa zwei Kilometer Entfernung kam. Was jedoch niemand wusste, war, dass es kein gewöhnlicher Brand war.
    Die Stadt wurde regelrecht in Strahlung gebadet, und die Einwohner ahnten nichts davon. Während die Regierung ver zweifelt versuchte, den Schaden zu begrenzen, gingen sie ihrem Tagewerk nach. Endlich, am Mittag des 27. April, fast anderthalb Tage nach der Explosion, verfügten die Behörden die Räumung der Stadt.
    Man kann über die sowjetische Regierung, die Millionen ihres eigenen Volkes getötet oder ins Exil geschickt und praktisch alle anderen unterdrückt hatte, sagen, was man möchte, aber man muss zugeben, dass sie verdammt gut darin ist, einen Ort zu evakuieren, wenn sie es sich einmal vorgenommen hat. Als die Anordnung schließlich erging, dauerte es nur wenige Stunden, bis aus Pripjat mit seinen fünfzigtausend Einwohnern eine Geisterstadt geworden war. Die Evakuierung wurde in den nächsten Tagen ausgeweitet; am Ende mussten über dreihunderttausend Menschen ihr Zuhause aufgeben.
    Und Pripjat stand leer. In den Monaten und Jahren nach der Evakuierung wurde die Stadt geplündert und verwüstet von Leuten, denen offensichtlich egal war, dass ihre Beute – der Fernseher für den eigenen Gebrauch oder die Metallteile, die als Schrott verkauft wurden – radioaktiv strahlte. Evakuierung und Plünderung verwandelten Pripjat mit der Zeit in das, was es heute ist: die einzige wahrhaft post-apokalyptische Stadt der Welt.
    Was immer Sie in Filmen gesehen haben, ein Ort kann auch nach der Apokalypse durchaus schön sein – wenngleich ziemlich menschenleer. Die von Süden nach Pripjat führende Straße war gesäumt von Büschen mit kleinen weißen Blüten, in der Luft hing schwerer Blumenduft. Als wir das Stadtzentrum erreichten, hatten wir freie Sicht auf alle umliegenden Gebäude. Dennis und ich stiegen mitten auf einer Kreuzung aus, während Nikolai in eine Seitenstraße abbog und ein nettes Plätzchen suchte, um das Bier zu trinken, das er sich gekauft hatte.
    Es war ein heißer, sonniger Tag. Wir befanden uns mitten in der Geisterstadt, hinter vereinzelten Pappeln ragten die Häuser des Stadtzentrums auf. Die weiß-rosa verputzte Fassade eines zehnstöckigen Gebäudes hinter uns bröckelte stellenweise ab und legte das grobe Mauerwerk frei. Linker Hand standen weitere Wohnblöcke, auf einigen thronten große Hammer-und-Sichel-Zeichen, die früher bestimmt in der Nacht geleuchtet haben.
    Wir gingen auf einem unebenen, mit Unkraut und Gras überwucherten Betonpfad, ehemals ein Bürgersteig, zum Hauptplatz der Stadt. Dennis steckte sich eine Zigarette an und nahm einen langen Zug. Er blickte in den Himmel. Eine sanfte Brise trieb einen Haufen kleiner Wolken vor sich her. Vögel flitzten vorbei.
    Der Platz war an drei Seiten von hohen Gebäuden begrenzt. Rechts war das defekte Neonschild des Hotels Polissia mit seinen sieben Stockwerken samt den quadratischen, leeren Fenstern zu sehen. Von unserem Standpunkt aus wirkte es nicht so, als hätten Plünderung und Leerstand über mehr als zwanzig Jahre das karge, abweisende Erscheinungsbild der Hotelarchitektur wesentlich verschlimmern können. Einige robuste Sträucher spähten sogar durch die frei stehenden Buchstaben des Hotelnamens auf dem Dach. Faszinierend, wo überall etwas wächst, wenn niemand Unkraut jätet.
    Während er seine Zigarette rauchte, beantwortete Dennis meine Fragen mit der wortkargen Abgestumpftheit von jemandem, der einen Ort schon Tausende Male gesehen hat. »Was ist das?«, fragte ich und zeigte auf das
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