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Wilhelm II.

Wilhelm II.

Titel: Wilhelm II.
Autoren: C.H.Beck
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erkannt wurde, schickte der Prinz einen Boten zu Martin, der den Brief des Vortags noch nicht erhalten hatte. Der Frauenarzt fand also eine Notlage vor, als er in den Kreißsaal eilte. Er ließ die leidende Mutter durch den schottischen Arzt, den Queen Victoria nach Berlin geschickt hatte, mit Chloroform betäuben, ordnete – da die Wehen nicht genügend Stoßkraft besaßen – die Verabreichung von Mutterkorn (eigentlich ein Abtreibungsmittel) an und suchte nun das Kind, das vom Ersticken bedroht war (da es die Nabelschnur mit dem Kopf abdrückte), aus dem Geburtskanal zu lösen. Bei dem Versuch, den über den Kopf emporgestreckten linken Arm des Babys herunterzuziehen und «mittels desselben» dessen Körper zu rotieren, wurde dessen Nervengeflecht am Hals zerrissen: Der künftige König der Militärmonarchie Preußen und nachmaliger Kaiser des mächtigen Deutschen Reiches kam nicht nur «in hohem Grade scheintodt», sondern auch mit einer sogenannten Armplexuslähmung zur Welt.
    Die nächsten Tage und Wochen brachten die Gewißheit, daß der kleine Prinz eine schwere Geburtsverletzung erlittenhatte. Zwischen dem linken Oberarm und der Schulterpartie entwickelte sich eine deutliche Falte. Das linke Schultergerüst und der Arm hingen schlaff herunter, das Ellbogengelenk war dagegen steif. Im Vergleich zum rechten Arm war der linke kalt und zu kurz; mit der Zeit wurde der Unterschied sichtlich größer. Auch die linke Hand blieb kleiner als die rechte, ihre auffallend spitzen Finger waren klauenartig eingeschlagen. Die Ursache für die besorgniserregende Mißbildung war jedoch rätselhaft. Man ging von einer Quetschung der Muskeln aus, die mit der Zeit heilen würde, empfahl kalte Waschungen, Einreibungen mit Alkohol, passive Bewegungen des lahmen Gliedes. Allein schon die Anordnung des Leibarztes, den rechten Arm festzubinden, um das Kleinkind zum Gebrauch des linken Armes anzuregen, beweist, wie unvollkommen das Wissen der damaligen Medizin über das Nervensystem war. Erst allmählich setzte sich die Überzeugung durch, daß die Lähmung nicht auf eine Muskelverletzung, sondern auf einen Hirn- oder Nervenschaden zurückzuführen und deshalb unheilbar war.
    Aufgrund der falschen Diagnose wurden geradezu groteske therapeutische Maßnahmen ergriffen. Als der Prinz sechs Monate alt war, verordnete Professor Bernhard von Langenbeck von der Charité «animalische Bäder». Zweimal wöchentlich wurde Wilhelms linker Arm eine halbe Stunde lang in den Kadaver eines «frischgeschossenen Hasen» gesteckt in der Erwartung, Wärme und Kraft des wilden Tieres würden sich auf den Arm übertragen. Bereits an dieser Stelle fragt man sich, welche psychischen Folgen diese jahrelang praktizierte blutige Grausamkeit auf den künftigen Monarchen gehabt haben mag; irgendwelchen Nutzen brachte sie jedenfalls nicht. Da er infolge der Lähmung Schwierigkeiten hatte, sein Gleichgewicht zu finden, gestalteten sich Wilhelms Gehversuche schmerzhaft, zumal man fortfuhr, seinen rechten Arm festzubinden. Frustration und Wut machten sich bemerkbar. Bald nach dem ersten Geburtstag verschrieb Langenbeck zusätzlich zu den «Thierbädern» Malzbäder und Magnetisierung – die erste Elektromagnetisierung des Armes wurde im April 1860 vorgenommen, doch das Glied blieb kalt, gefühllos und dunkelrot. Später ist für die Elektrotherapiedes Halses der konstante galvanische Strom verwendet worden, da Wilhelm an dieser empfindlichen Stelle den magnetischen Wechselstrom nicht ertrug. Für den Arm wurden weiterhin beide Stromarten täglich «auf längere Zeit» und «in bedeutender Stärke» angewendet.
    Die Kopfstreckmaschine, Zeichnung von Kronprinzessin Victoria
    Als Wilhelm vier Jahre alt war, stellte sich als zusätzliches Krankheitsbild ein Schief- oder Drehhals ein: Die unverletzte rechte Halsmuskulatur zog den Kopf zur rechten Seite herunter und drehte gleichzeitig das Kinn zur paralysierten linken Seite hin. Im April 1863 wurde, wie sein Vater notierte, eine «Maschine für Wilhelm’s Hals probirt». Die «Kopfstreckmaschine», die der Prinz täglich eine Stunde tragen mußte, bestand – so beschreibt es die entsetzte Mutter – «aus einem Gürtel um die Taille, an dem hinten eine Eisenstange festgemacht ist. Diese Stange führt über den Rücken zu einem Ding, das genauso aussieht wie die Zügel bei einem Pferd. Darin wird der Kopf festgemacht und mit einer Schraube […] in die gewünschte Stellung gebracht.» Die Kronprinzessin fertigte eine
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